Das erste Outing

Es ist schon erstaunlich, wie unterschiedlich es sich anfühlen kann, Dinge in einem direkten Gespräch auszusprechen oder einfach nur anonym darüber zu schreiben. Diese verblüffende Erfahrung durfte ich heute machen, als ich mich zum ersten Mal gegenüber einem realen Menschen zu meiner devot-masochistischen Neigung bekannt habe.
Schon seit Wochen steht der Termin dafür fest. Das war eines der ersten Dinge, die ich gemacht habe, als mir bewusst wurde, welche sexuelle Neigung ich habe: Einen Termin bei einem Verhaltenstherapeuten. Ich bin sehr gespannt auf das Gespräch mit ihm, denn mir schwirren eine Menge Fragen durch den Kopf. Dass es mir eventuell ein kleines bisschen schwer fallen würde, ihm gegenüber meine Neigung zu erwähnen und offen darüber sprechen, ist mir schon klar, aber ich will es unbedingt. Mir brennt da nämlich eine Frage unter den Nägeln, eine, die nur er mir beantworten kann: Lässt sich meine Neigung nicht einfach wegtherapieren?

Den ganzen Tag schon spiele ich das bevorstehende Gespräch in Gedanken durch, überlege mir, was ich fragen will, wie ich mein persönliches Dilemma erklären will (mein Partner teilt ja meine Vorliebe nicht), und natürlich überlege ich mir, wie ich überhaupt ins Thema reinkomme. In meinem Kopf geht das alles ganz leicht. Ich bin ja schließlich nicht auf den Mund gefallen.

Als wir uns im Besprechungszimmer auf den Ledersofas gegenüber sitzen und mich der Therapeut fragt, wie er mir helfen kann, habe ich urplötzlich einen Kloß im Hals und fange an rumzudrucksen. Mein Mund wird trocken, und ich blicke verlegen auf den Fußboden vor mir. So kenne ich mich gar nicht. Verflixt, dass es so schwer werden würde, die richtigen Worte zu finden, hatte ich nicht erwartet.Alles, was ich mir zuvor überlegt habe, ist wie weggeblasen. Ein paar Mal setze ich an, aber kein Wort kommt über meine Lippen. Schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, habe ich mich so weit gefasst, dass ich glaube anfangen zu können. „Ich habe da etwas an mir entdeckt. Etwas … Ungewöhnliches.“

Stille ... Ich weiß genau was ich sagen will, aber ich bringe es nicht raus. Stattdessen spüre ich, wie meine Wangen in lodernden Flammen aufgehen. Die 7 Liter Blut, die sich normalerweise gleichmäßig in meinem Körper verteilen, haben sich schlagartig in meinem Gesicht konzentriert. Immer noch Stille ... Am liebsten würde ich wieder gehen. Was habe ich mir bloß dabei gedacht, als ich den Termin hier vereinbart habe? Einem wildfremden Menschen zu erzählen, dass es mich sexuell erregt, unterworfen, erniedrigt und geschlagen zu werden! Aber gerade die Tatsache, dass er fremd ist, sollte es doch einfacher machen, oder? Es kann mir egal sein, was er von mir denkt.

Die Pause wird langsam peinlich, aber mein Gegenüber ist ganz entspannt. Geschäftig schaut er auf seine Notizen, um mich nicht mit Blicken zu drängen. Viel zu schreiben hat er ja eigentlich noch nicht ... O.k., denke ich mir. Wenn du Informationen und Beratung willst, dann musst du da jetzt durch. Noch einmal hole ich tief Luft, und meine Stimme klingt rau und seltsam wackelig, als ich erkläre: „Also ich habe so eine Neigung ... eine sexuelle Neigung.“

Ich räuspere mich. O.k., nochmal: „Also ich bin nicht lesbisch oder so ...“ Ach verdammt, erzähl nicht, was du nicht bist, komm auf den Punkt. Mittlerweile schaut er mich interessiert an und wartet darauf, dass ich weiter spreche. „Naja, ich hab entdeckt, dass ich eine devot-masochistische Neigung habe.“ Puh, jetzt ist es raus! Aber statt erleichtert zu sein, bin ich nur beschämt und bemerke, wie sich auch die letzten 100 ml Blut in Richtung Gesicht bewegen. Mein Herz klopft bis zum Anschlag und ... verflixt, er sagt nichts. Warum sagt er denn nichts? Erwartungsvoll schaut er mich an, und ich fange an drauflos zu plappern. Hatte ich mir nicht alles ganz genau zurecht gelegt? Schön chronologisch und sachlich? Im Internet ging es doch auch! Verdammt, ich hätte das einfach ausdrucken und mitnehmen sollen, stattdessen erzähle ich stockend und konfus, was ich in den letzten paar Monaten über mich erfahren habe, dass ich aber eigentlich schon als Kind so gewesen sei, und dass ich momentan wie eine Kompassnadel zwischen zwei Polen hin und her schwanke: Entweder Scheidung, Schlussstrich, Neuanfang oder aber Neigung unterdrücken, so tun als wäre alles in Ordnung, und so weiterleben wie bisher ...

„Glauben Sie denn, dass Sie das noch können?“, unterbricht er mich an dieser Stelle. Ohne lange nachzudenken, schüttele ich den Kopf. „Nein, das ist wie Zahnpasta in die Tube zurückschieben. Jetzt wo ich Bescheid weiß, ist es noch viel heftiger geworden, dieses Sichsehnen und dieses unbestimmte Verlangen, das immer im Hintergrund da war, ist viel konkreter geworden, hat Gestalt angenommen.“ Meine Stimme wird jetzt sicherer, und ich kann wieder in zusammenhängenden Sätzen sprechen. Seine sachliche Reaktion hat eine entspannende Wirkung auf mich, und es folgt ein langes, ausführliches Gespräch. Gemeinsam erörtern wir, welche Möglichkeiten ich habe, um meine Neigung auszuleben. Er schlägt mir vor, mir einen Spielgefährten zu suchen, von dem mein Mann nicht unbedingt erfahren müsste, oder aber meinen Mann einzuweihen, weil er mir eben nicht geben kann, wonach mir der Sinn steht, dafür müsste er doch Verständnis haben. Auch die Möglichkeit, meinen Mann nach und nach an die Thematik heranzuführen, erörtern wir, wobei schnell klar ist, dass dies nie so weit führen wird, wie ich es gerne leben möchte.

Meine Frage nach einer Therapiemöglichkeit verneint er - nicht ganz unerwartet - und erklärt mir, dass eine solche Neigung bereits im Embryonalalter angelegt werde und danach nicht mehr veränderbar sei (Dies träfe übrigens auf alle Formen sexueller Neigung zu, z.B. Homosexualität). Ich muss also damit leben, was ich bin, muss irgendwie einen Weg für mich finden. Während unseres ganzen Gesprächs schwanke ich zwischen enormer Anspannung und bedingter Entspannung hin und her. Immer wieder lässt mich meine Stimme im Stich, vor allem, wenn es weniger um Allgemeines geht als um mich ganz persönlich. Als er von mir wissen will, was genau meine Fantasien sind, gerate ich schon wieder ins Schleudern. Es ist einfach beschämend, einem anderen Menschen zu erklären, dass man den Gedanken genießt, unterworfen, benutzt und gefesselt zu werden, und dass die Aussicht auf Schläge einen vor wohliger Erregung erschauern lässt. Wieder habe ich Probleme, das offen auszusprechen. In meinem Kopf fühlt es sich richtig und völlig natürlich an, aber außerhalb meiner Gedankenwelt scheinen diese Gefühle und Sehnsüchte geradezu unerhört und vollkommen inakzeptabel zu sein. Bis heute hatte ich keine Ahnung, dass ich so verklemmt sein kann. Während mein Kopf den Satz längst zu Ende geformt hat, weigert sich mein Mund, ihn auszusprechen. Stattdessen blicke ich immer wieder verlegen auf meine Hände, die über das schwarze Leder des Sofas streichen, und fühle wie meine Wangen immer noch glühen. Stockend erzähle ich von meinen Fantasien, aber auch von meiner Befürchtung, dass in der Realität alles ganz anders sein kann. Mit sachlichem Interesse hört mir der Therapeut zu und hält geschickt das Gespräch in Gang, wenn es mir nicht möglich ist. Wir reden über Fesseln, Schläge, Dominanz usw. Allmählich gewinne ich den Eindruck, dass ich nicht die Erste bin, mit der er sich über diese Dinge unterhält. Er kennt verdächtig viele Fachausdrücke ...

Die 45 Minuten vergehen wie im Flug, und ich lasse mir vorsorglich einen neuen Termin in ein paar Monaten geben. Wer weiß, ob sich mein Gefühlschaos bis dahin gelegt hat? „Machen Sie sich nicht so viele Gedanken deswegen. Ich kenne viele Leute, die so ticken wie Sie, und die meisten davon sind sehr nett“, verabschiedet er sich und reicht mir lächelnd die Hand. Kurze Zeit später bin auf dem Weg zurück nach Hause und denke über mein erstes, kleines Outing nach. Es war unerwartet anstrengend, und in die Erleichterung, die ich fühle, mischt sich ein Gefühl körperlicher und emotionaler Erschöpfung. Irgendwie kommt mir das Ganze auch irreal vor. Ist das alles gerade wirklich passiert? Habe ich tatsächlich soeben jemandem erklärt, dass ich mir wünsche, im sexuellen Kontext erniedrigt, benutzt und gepeitscht zu werden und weiß der Kuckuck was noch alles? Als ich zuhause ankomme, öffnet mir mein Mann lächelnd die Tür, und ich fange wieder an so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Und vielleicht ist es das ja auch?

Auch wenn es keine Therapie gibt, so hat mir das Ganze doch sehr geholfen. Ich weiß jetzt, dass ich gar nicht erst versuchen sollte, meine Neigung zu unterdrücken. Ich muss einen Weg finden, sie nach und nach in mein Leben zu integrieren. Und in noch einem Punkt hat mir der Termin heute geholfen: Ich weiß jetzt, wie unendlich schwer es ist, einem anderen Menschen Auge in Auge gegenüber zu stehen und zuzugeben, dass man auf eine sehr persönliche und intime Art und Weise deutlich von der Norm abweicht. Auf eine Art und Weise, die nicht gesellschaftsfähig ist. „Ich bin pervers, und das ist auch gut so.“ Ich glaube, bis ich das so sagen kann, liegt noch ein langer Weg vor mir.

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