Aufhebung einer Konditionierung

Um Euch ein wenig näher bringen zu können, wie und wo Konditionierungen auf Euch und Euer Leben treffen können, möchte ich Euch einen kleinen Bericht einer anonymen Userin vorstellen und mich an Ihrem Beispiel entlanghangeln:

Meinen ersten Dom und ersten Ehemann lernte ich kennen als ich 17 war. Um es jetzt abzukürzen: Er benutzte irgendwann mal im Spiel einen Rohrstock, um mich zu strafen. Möchte noch erwähnen, das ich zu dieser Zeit im 4. Monat schwanger war. Das hatte weitreichende Folgen für mich. Es ist heute noch so, dass ich, wenn ich nur schon Bilder eines Rohrstock sehe, Schweißausbrüche bekomme und das, obwohl das Geschehene mehr als 20 Jahre (genau 27 Jahre) her ist. Vom Anfassen oder gar Spüren eines Rohrstock brauchen wir gar nicht zu reden.“

Um das Feld von vorn aufzurollen möchte ich Euch nun kurz ins Jahr 1905 entführen, in dem ein bekannter russischer Nobelpreisträger, der Forscher Iwan Petrowitsch Pawlow ein wichtiges bzw. das wichtigste Experiment zum Thema Konditionierung durchführte:

Dazu brauchte er: Einen Hund und zwei unkonditionierte Reize, nämlich Futter und ein Glöckchen.

Vor dem Experiment kommt es beim Anblick von Futter zu einer unkonditionierten/“normalen“ Reaktion beim Hund: Speichelfluss.

Während des praktischen Versuchs klingelte der Forscher immer dann mit dem Glöckchen, wenn dem Hund Futter dargeboten wurde - quasi als Ankündigung - und stellte letztendlich fest, dass ab einem bestimmten Punkt ein Speichelfluss ALLEIN durch das Klingeln (ohne dass Futter bereit stand) ausgelöst werden konnte.

Der Speichelfluss wurde also durch das Klingeln des Glöckchens zu einer konditionierten Reaktion und das Glöckchen zu einem konditionierten Reiz aufgrund der zuvor regelmäßigen und verlässlichen Präsentation des Glöckchens vor der Futtergabe.

Ab hier wird es leider ein wenig theoretisch, aber ich finde es sinnvoll sich das „Rohrstockbeispiel“ auf dieser Grundlage mal wissenschaftlich zu Gemüte zu führen, um auch die Lösungsbeispiele von Maria genauer nachvollziehen zu können:

Vor dem Spiel war der Rohrstock ein unkonditionierter Stimulus, quasi „neutral“. Dadurch dass die submissive Person jedoch in unserem Beispiel während des Gebrauchs des Schlaginstruments massive negative Erfahrungen macht (Schmerz, Angst, Bedrohung der Existenz) kommt es zu einer Konditionierung, die ein Höchstmaß an körperlicher und seelischer Reaktion mit sich bringt.

Die Folge davon ist, dass unsere Sub sich ab diesem Zeitpunkt schon allein durch den Anblick eines Rohrstocks (jetzt konditionierter Stimulus, also „das Glöckchen“) geängstigt fühlt, auch ohne dass es zur Bestrafung/ Schlägen kommt (in diesem Fall das „Futter“). Der zuvor lediglich ankündigende Anblick des Rohrstocks führt jetzt auch ohne drohende Gefahr direkt zur körperlichen und seelischen Reaktion.

Könnt ihr uns noch folgen?

Dann tauchen wir jetzt noch ein wenig tiefer in unser theoretisches Konzept ein: Durch die Vermeidung der Konfrontation mit dem Stimulus, also dem Rohrstock, erfährt unsere Submissive eine kurzfristige Erleichterung, nämlich das Wegbleiben der oben beschriebenen körperlichen und seelischen schlechten Empfindungen.

Vermeidungsverhalten entsteht durch die „Erweiterung“ unserer Konditionierung, wonach Verhalten besonders oft gezeigt wird, wenn daraufhin eine Belohnung oder das Nachlassen eines unangenehmen Zustandes folgt. Das Wegbleiben der negativen Gefühle ist quasi die „Belohnung“ der Submissiven für die Vermeidung des Rohrstocks. Man spricht jetzt nicht mehr von „Klassischer“ sondern von „Operanter Konditionierung“ .

Sub „lernt“, dass das Vermeiden ihr hilft, sie verstärkt ihr eigenes Verhalten und wird immer mehr dazu übergehen, sich so wenig wie möglich mit dem Thema Rohrstock zu beschäftigen.

Allerdings, und das ist individuell unterschiedlich, kann es langfristig für sie zur Belastung werden, denn vielleicht wünschen sie und ihr neuer Partner sich sehnlich, dass Sub wieder einigermaßen sorglos mit diesem Instrument umgehen kann.

Vielleicht kommt es sogar zu einer so genannten „Generalisierung“ und plötzlich lösen auch dem Rohrstock ähnliche Gegenstände Panik und Übelkeit aus bis hin zu dem Punkt, an dem jegliche positive Erfahrung mit Schmerzen trotz großem Wunsch auf beiden Seiten nicht mehr möglich ist...

Welche Lösungsstrategien gibt es nun für dieses Problem? Maria erklärt es Euch anschaulich am oben beschriebenen Beispiel:

Um Konditionierungen aufzulösen, kann man drei Prozesse unterscheiden, deren Anwendung in der Praxis aber oft verschwimmt. Ich erkläre sie dennoch kurz und setze sie dann praktisch in unserem Rohrstockbeispiel um. Im Übrigen sind die meisten Ängste bzw. Angststörungen, die wir alle mehr oder weniger stark erleben, durch Konditionierungen entstanden. Aus meiner Praxis weiß ich, dass es viel Mut erfordert, sich diesen Ängsten zu stellen, jedoch kann man diese leider nicht loswerden, wenn man in der Vermeidung bleibt. Deshalb ist es immer hilfreich, sich zuvor zu motivieren, zu überlegen, was man „Gutes“ davon hat, wenn man an diesen Ängsten aktiv arbeitet.

  1. Löschung (Extinktion)

„Wenn du vom Pferd fällst, sollt du gleich wieder aufsteigen“: Nach einer einzelnen Negativerfahrung wie vom Pferd fallen, vom Hund gebissen werden oder der Chirurg, der Komplikationen erlebt hat, sollte man sich möglichst bald wieder mit dem zuvor neutral erlebtem Reiz (Pferd, Hund, Operation) auseinandersetzen und erleben, dass beim weiteren Versuch nichts Schlimmes passiert und die vielleicht anfangs erlebte Angst unnötig ist. Wir versuchen, Vermeidungsverhalten abzubauen.

Theoretisch und auf den Rohrstock angewandt bedeutet Löschung, dass keine neue Verstärkung/ Bestrafung (Schlagen) bei Präsentation des konditionierten Reizes (Rohrstock) erfolgt, so dass der ursprünglich konditionierte Reiz (Rohrstock) seine beunruhigende Wirkung verliert und es weniger wahrscheinlich wird, dass eine konditionierte Reaktion (Aufregung, Angst) gezeigt wird.

Praktisch heißt es, dass sich die betroffene Person raus aus der Vermeidung muss und sich mit einem Rohrstock konfrontieren sollte, ohne dass danach etwas (Unangenehmes) an ihr angestellt wird. Konkret könnte das heißen, sie soll sich Rohrstöcke anschauen, sie berühren, halten, an ihrem Körper spüren, ohne dass sie einen Schlag oder Schmerz verspürt. Durch das Ausbleiben der zuvor konditionierten Reaktion (Angst oder ähnliches) kann der Rohrstock irgendwann wieder neutral erlebt werden.

Weiterhin kann die Löschung durch Wissensvermittlung positiv beeinflusst werden, d.h. also, wenn die Person weiß oder gesagt bekommt – oder sich selbst immer wieder sagt -, dass nun nichts weiter passieren wird, dass alles ok ist, entwickelt sich eine Erwartungshaltung, die die Löschung der konditionierten Reaktion (Angst…) erleichtern kann.

  1. Habituation

In der Psychotherapie nutzt man dieses Verfahren häufig, um sich z.B. mit Höhenangst zu konfrontieren: Man steigt auf einen Turm und bleibt so lange am Rand stehen, bis der Körper ganz automatisch müde wird, sich an die Höhe gewöhnt und sich irgendwann entspannt. Oder jemand mit Spinnenphobie schaut sich erst Videos mit Spinnen an, bis er sich irgendwann beruhigt. Im nächsten Schritt setzt er sich eine auf die Hand usw. Hier wird zwar durchaus Aufregung erlebt, aber diese legt sich im Laufe der Zeit automatisch, weil der Körper/ Organismus an den (unangenehmen) Reiz gewöhnt, ermüdet und loslässt.

Obwohl es eine theoretische Abgrenzung zur oben beschriebenen Löschung gibt, sieht die praktische Anwendung oft ähnlich aus, der Unterschied liegt vor allem darin, dass man sich hier immer wieder und möglichst oft und lange mit dem corpus delicti beschäftigt, so lange, bis sich der Körper beruhigt, sich das Angstgefühl legt. Das kann man auch Schritt für Schritt tun, also erstmal mit Bildern des Stocks anfangen, dann den Stock selbst in der Hand halten und schließlich vielleicht jemanden bitten, diesen in der Nähe des eigenen Körpers zu schwingen. Jeder Schritt wird hier nach und nach konfrontativ angegangen, bis man habituiert.

Man kann diese Prozesse sowohl in-vivo als auch in-sensu durchführen, also entweder genau wie beschrieben im realen Leben in die Konfrontation gehen oder aber durch Imagination und Vorstellungskraft einzelne Schritte angehen, die Angst hochkommen lassen und sich gewöhnen. Dies wird v.a. dann getan, wenn der konditionierte Reiz (hier der Rohrstock) extreme Ängste verursacht oder auch, wenn dieser auslösende Reiz nicht mehr konkret zugänglich ist (z.B. bei einem einmaligen traumatischen Erleben).

  1. Gegenkonditionierung

Bei einer Gegenkonditionierung handelt es sich um einen erneuten Lernvorgang, bei dem bewusst eine alternative Reaktion mit dem konditionierten Stimulus verknüpft wird. Wichtig ist, dass die neue Reaktion möglichst stark und angst-kontraproduktiv sein sollte.

Vor allem bei sozialen Ängsten oder Prüfungsangst werden z.B. oft Entspannungsübungen empfohlen, die genau das bewirken sollen: Die Entspannung vor einer Prüfungssituation ist nicht vereinbar mit einem Angstgefühl und soll diese damit eliminieren. Man soll diese Entspannungsübungen möglichst oft durchführen, um sie leicht abrufen zu können und sollte sie dann in den entsprechenden Situationen üben. Dies kann – wie oben beschrieben – auch in sensu/ in der Vorstellung geschehen. Weitere antagonistische Reize zu Angst oder Anspannung sind z.B. Lächeln oder Lachen, Freude und Wut.

Bezogen auf unser Beispiel heißt das, die Betroffene erlebt den Rohrstock in ihrer Nähe oder sieht ihn und bemüht sich um eine Entspannungsübung oder macht etwas anderes, das ihr gut tut und nicht mit Angst vereinbar ist, z.B. mit dem Rohrstock tanzen, spielen, herumwirbeln, trommeln. Dadurch kann ein neues – besseres – Gefühl mit dem Rohrstock verbunden und gelernt werden.

Aber Achtung: Konditionierungen können durchaus auch „heftig“ ausfallen und nicht „mal eben“ im Selbstversuch aufgelöst werden. Hinter einer Konditionierung kann in manchen Fällen auch eine Traumatisierung stecken, die wir im nächsten Teil erklären und von einer harmloseren Konditionierung abgrenzen werde. Hier ist mit viel Vorsicht an eine therapeutisch gemeinte Konfrontation heranzugehen, da man sich im Zweifelsfall auch retraumatisieren kann. In diesem Fall bitten wir lieber einen Fachmann/Fachfrau aufzusuchen.

© Maria131 und Gegengift 2016

Dieser Beitrag einer Psychologin und einer Ärztin wurde zuerst im Forum veröffentlicht, dort habt ihr auch die Möglichkeit mit den Verfasserinnen in Kontakt zu treten.

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