Chimäre

Sie schloss die Tür hinter sich zu und zündete sich eine Zigarette an. Sie rauchte zu viel. Das hatte er ihr auch gesagt... lange her.
Sie betrachtete ihr Spiegelbild und die Frau, die sie darin sah, kam ihr fremd vor. Sie war blass und dünn geworden und sie sah müde aus. Sie lehnte den Kopf gegen das kalte Glas und schloss die Augen. Sie stand regungslos da und lauschte der Musik, die durch die geschlossene Tür bis zu ihr drang.

Und plötzlich sah sie ihn. So klar und deutlich wie schon lange nicht mehr. Diese stechenden Augen, die bis auf den Grund ihrer Seele blicken konnten. Rasputins Augen. Sie streckte instinktiv die Hand nach ihm aus, um sein Gesicht zu berühren, das über alles geliebte Gesicht, seine warme Haut, seinen sinnlichen Mund, seine Haare. Sie mochte keine blonden Haare, vor allem nicht bei einem Mann, aber ihn mochte sie. Lange her.
Ein Jahr? Ein Monat? Ein Tag? War auch unwichtig, der Schmerz war noch da. Genauso stark, genauso zerreißend wie damals.

Sie brauchte heute etwas, um diesen Schmerz, um alle ihre Sinne zu betäuben. Alkohol... Drogen...Sex... was sie auch immer zuerst finden konnte. Sie öffnete die Augen, und die Chimäre verschwand so plötzlich, wie sie gekommen war. Sie lachte leise. Sie lachte... das war gut. Beim letzten Mal hatte sie noch geweint.

Sie ging wieder zurück in den Club. Die Musik dröhnte. „Ich bin viel zu alt für diesen Sch...“. Das sagte sie sich jede Woche aufs Neue und kam trotzdem immer wieder hierher. Es war wie eine Sucht, aber die Sucht, die Sehnsucht, war ihr nicht fremd, hatte etwas Beruhigendes, Vertrautes. Der einzig stabile Faktor in ihrem jetzigen Leben.
Sie bahnte sich den Weg durch die Menge. Normalerweise bekam sie Panik unter vielen Menschen, aber nicht diesmal. Sie spürte noch seine Präsenz, seine Nähe. Das hat auch früher geholfen. Die Macht, die er immer noch über sie zu haben schien, war stärker denn je. Ebenso der Schmerz in ihrer Seele.

Dann spürte sie es wieder. Diese kalten Schauer über ihrem Rücken. Dunkle Augen, die sie schon die ganze Nacht verfolgten. Dieser Blick, der wie Feuer auf ihrer Haut brannte.
„Eine Hyäne“, dachte sie, „eine Hyäne auf der Lauer, wartend, dass ihre Beute Schwäche zeigt.“ Sie hielt seinen Blick fest und lächelte. Er sah gut aus, das vereinfachte die Sache etwas.
„Nicht ich, DU bist heute das Opfer“, dachte sie sich. Seine Augen funkelten in der Dunkelheit und sie ging auf ihn zu. Sie würde heute Nacht keinen Alkohol brauchen. Und auch keine Drogen. Nicht heute Nacht!

Der Anfang

„Sie rauchen zu viel.“ Mit diesem Satz fing ihr Leben an. „Sie rauchen zu viel.“... sie konnte im Nachhinein gar nicht mehr sagen, warum sie dort war, damals, an diesem Tag... an dem Tag vor ihm. Sie ahnte nicht, dass es bald eine Zeit geben würde, die sie „die Zeit nach ihm“ nennen würde... damals, als sie noch lebte... als es ihn noch nicht gab.

Sie mochte solche Clubs nicht, sie mochte die Menschen nicht, die sie da sah. Marionetten, leblose Seelen, Masken... stereotyp und leer. Menschen jagten ihr Angst ein, sie ertrug ihre Nähe nicht, die Nähe, die sich zwangsläufig ergab. Sie ertrug ihre Blicke nicht, die sie spürte, körperlich spürte, schmerzhaft, brennend auf ihrer Haut.
Es sind Hyänen. Sie würde später öfter dieses Wort benutzen... Hyänen.. Es wird eine Zeit geben, da sie selbst zur Hyäne würde ... später... in der Zeit nach ihm...

„Sie rauchen zu viel“... sie schmunzelte ein wenig spöttisch ... wie höflich, er siezte sie. Er muss jünger sein, schoss ihr durch den Kopf. Seine Stimme kam aus dem Nichts, drang durch die Massen zu ihr durch, übertönte die Musik, die Gesprächsfetzen, die Gelächter auf der anderen Seite der Bar. Diese Stimme ließ sie erschaudern.
Kismet... sie spürte seinen Atem im Nacken... sie ließ sich Zeit... zündete noch eine Zigarette an, drehte sich um. Sie blickte ihn an... tauchte in ihn ein. Sein Gesicht schien nur aus Augen zu bestehen, stechend blaue Augen.... Augen wie... wie... es wollte ihr nicht einfallen. Sie kannte diese Augen, sie hatte sie schon mal gesehen. Aber wann? Wo? Hypnotisierend, magnetisierend... was hatte er gesagt?
„Sie wollten gehen?“ Ja, sie wollte gehen. Sie hatte es zumindest vorgehabt. „Nein, Sie gehen noch nicht.“ Es war kein Befehl, es war nicht einmal eine Bitte. Es war eine Feststellung. „Sie gehen noch nicht“.

Sie wusste, sie würde nicht gehen... Menschen tanzten. Die Musik war verstummt, wieso tanzten die Menschen? Sie hörte diese Stimme, wie ein Echo in ihrem Kopf. Sie hörte nur seine Stimme. Sie verstand den Sinn seiner Worte nicht, worüber redete er?
Sie gab Antworten, deren Sinn sie auch nicht verstand, es schien nicht wichtig, zu verstehen... nichts war wichtig. Nichts, außer zwei stechend blauen Augen, in die sie eintauchte... sein Blick hielt sie fest, sie ertrank darin.
Diese Berührungen. Männerhände auf ihrem Körper, wie lange war das jetzt her? Ein Jahr? Ein Monat? War es erst gestern gewesen? Sie wusste es jetzt nicht mehr. Jetzt, in der Zeit nach ihm.

Das Ende

Sie wachte auf. Es war finster und sie wusste, sie hatte nicht genug geschlafen. Sie schlief sehr schlecht, wenn sie schlief. Sie blieb regungslos liegen, hielt die Augen geschlossen. Sie hörte das Ticken der Uhr, das einzige Geräusch, das sie wahrnahm. Sie wollte nicht wissen, wie spät es war. Es war ohne Bedeutung. Sie hatte nicht genug geschlafen. Der Klang ihrer Stimme war fremd, tat weh in ihren Ohren.

„Bitte geh!“, hatte sie damals gesagt. Damals, als sie anfing zu sterben. „Bitte geh, du zerstörst mich.“ Sie fiel zu Boden und schlug hart auf. Sie empfand keinen Schmerz, außer dem in ihrem Herzen. Ihr Körper zitterte. Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie hatte nicht die Kraft gehabt, ihn anzusehen.
„Bitte geh!“ Er verstand sie. Seine Augen verdunkelten sich, er kniete hin, hielt sie in seinen Armen. „Ich liebe dich.“ Sie erkannte seine Stimme nicht, schmerzverzerrt, heiser. „Ich liebe dich.“

Er küsste sie zum letzten Mal. Sanft, fordernd... es war eine Ewigkeit her. Sie konnte nicht mehr sagen, wie lange. Ihr Sterben begann an diesem Tag. Sie würde heute wieder dahingehen. Da, wo sie ihn am stärksten spürte. Da, wo sie mit ihrer Chimäre allein sein konnte.
Sie würde die Augen schließen, würde wieder sein Gesicht sehen. Das geliebte Gesicht, seine Augen, in denen sie sich verlor, in denen sie ertrank... diese stechend blauen Augen, die bis auf den Grund ihrer Seele blicken konnten.

Sie war zu jung gewesen, damals. Nicht bereit gewesen, ihre Seele zu öffnen... in den Abgrund zu blicken. Nicht bereit für solche Gefühle. Damals, vor langer Zeit, als ihr Sterben begann.
Sie würde heute wieder dahin gehen. Eine Hyäne unter vielen, auf der Suche nach einem Opfer, nach ihrer Beute. Um den Schmerz zu betäuben, diesen alles verzehrenden Schmerz. Um diese Sehnsucht zu stillen, diese Sehnsucht, die ihr das Leben raubte.

Verfasserin Justine de Sade

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