Gummibärchenzeit

Leise klopfte es an die Tür. Sehr leise. Fast zaghaft. Verwundert, aber freundlich antwortete ich mit einem HEREIN. Langsam senkte sich die Türklinke ohne ein Geräusch zu machen und die Tür öffnete sich in Zeitlupe.
„Mama, kann ich mit Dir reden?“, fragte mein Sohn leise mit geröteten Wangen... Etwas schien ihm wirklich unter den Nägeln zu brennen.

Ich schaute von meinem Buch auf und lächelte ihn an, klopfte dann auf den freien Platz neben mir auf der Bettkante.
„Komm, setz dich zu mir“, forderte ich ihn auf und sah ihn aufmerksam an. Abwartend legte ich das Buch zur Seite und schwieg.
„Ich muss Dir was sagen, aber bitte schimpfe nicht!“, kam es fast kläglich von ihm. Nun war ich wirklich gespannt. So etwas geschah nun wirklich selten. Ich hatte keine Ahnung, was er wohl angestellt hatte.

Sehr leise begann er zu erzählen. Trotz seiner vierzehn Jahre wirkte er nun wieder ganz klein und Zärtlichkeit überkam mich. Ermutigend ergriff ich seine Hand, drückte sie sanft, während ich aufmerksam seinen Worten lauschte.
„Neulich hatte ich echt Hunger und habe nach Gummibärchen gesucht. Eigentlich überall. Und bei Dir im Zimmer steht doch ein abgeschlossener Schrank. Da dachte ich, Du hättest da vielleicht die Süßigkeiten...“
Er verstummte verlegen und mir begann etwas zu schwanen.

Mein Schrank stand nicht ohne Grund verschlossen in meinem Zimmer. Ich wusste, was er gefunden haben würde und ahnte, wie sehr es ihn verstört haben musste. So sagte ich nichts Tadelndes, auch wenn es mir auf den Lippen brannte. Der Inhalt des Schrankes war wirklich nicht für Kinderaugen bestimmt.

„Sprich weiter!“, ermunterte ich ihn mit scheinbar gelassener Stimme. Offen blickte ich ihm in seine großen Augen, in denen ich lesen konnte wie in einem Buch. Seine Strafe hatte er schon mehr als hundert Mal gehabt. Es war völlig unnötig, etwas Böses zu sagen.

„In dem Schrank waren Fesseln und... und ein paar andere Sachen, von denen ich nicht mal eine Ahnung habe, was man damit macht“, erneut sah er mich an. Sein Gesicht leuchtete mittlerweile in hellem flammendem Rot, er rutschte nervös hin und her. Ganz klein und verlegen sah er aus. Ich rutschte im Bett nach hinten und setzte mich im Schneidersitz ihm zugewandt hin.

„Du hast also meine Sachen gefunden. Nun bist Du ganz durcheinander und findest das nicht angemessen für eine Mutter?“, fragte ich ruhig nach.
„Nein“ widersprach er, „nicht nur... Ich wollte auch...“ Wieder eine Weile Stille, bis er genug Mut beisammen hatte.
„Ich wollte wissen, na, ob Du den Papa gefesselt hast oder er Dich und warum. Ich meine, ich verstehe das alles nicht und ..."

Nun war endgültig Stille.

Er rang sichtlich mit sich und sah mich an. Tausende von Gefühlen schienen ihn durchzuschütteln. Ich begann zu ahnen, dass er schon lange mit sich gekämpft und so lange gewartet hatte, bis er es nicht mehr aushalten konnte.
Ich lächelte ihn an, atmete nun meinerseits tief durch und begann ihm zu erklären, was er wissen wollte. Oft musste ich stocken, nach den richtigen Worten suchen, um ihn nicht zu erschrecken und nicht zu respektlos zu werden. Immerhin war ich seine Mutter und wir redeten auch über seinen Vater.

Zuvor wollte ich jedoch wissen, wann es geschehen war, wann er in den Schrank geschaut hatte, um mir ausrechnen zu können, wie lange ihn das bereits quälte. Er sagte ganz leise, es sei geschehen, kurz nachdem ich weg war.

Weg mit nur einer Tasche und ohne ein Ziel. Ein paar Tränen rannen über meine Wangen. Tränen der Schuld. Ich war nicht da gewesen, um mit ihm zu reden. Mit seinem Vater traute er sich nicht. Das war mir klar. Es war keine Frage wert. Er trug diese Fragen also bereits über ein halbes Jahr mit sich herum.

Ruhig und geduldig begann ich zu erklären: „Die Fesseln, die Du gefunden hast, sind nicht dazu da, jemand gegen seinen Willen zu halten. Sie sind vielmehr dafür da, dem anderen die Ruhe und die Gelassenheit zu schenken. Das Wissen, ich muss nichts tun. Nur fühlen.

Es fühlt sich alles ganz anders an, wenn man sich nicht bewegen kann oder wenn man nichts sieht. Es ist etwas Besonderes. Aus ganz kleinen Sachen werden viele intensive Wahrnehmungen.

Das tut man manchmal, wenn man sich sehr gern hat und man einander wirklich vertraut. Es ist ein großes Geschenk für beide. Der eine, der weiß, dass er das Vertrauen des anderen genießt und der andere, dem diese Gefühle geschenkt werden, wird sehr glücklich gemacht.“

Mein Sohn sah mich verständnislos und fragend an. Es war zu abstrakt für ihn. Er wusste nicht, was ich ihm sagen wollte. Einen Augenblick dachte ich nach, dann stand ich auf, holte eine Feder und gab sie ihm mit der Aufforderung, sich damit am Unterarm zu kitzeln. Verunsichert tat er es.
„Wie fühlt sich das an?“ fragte ich ihn. Ganz leise sagte er nur: „Das ist schön.“

Ich nickte, ergriff die Feder, kitzelte ihn meinerseits und er musste zugeben, es fühlte sich anders an. Ich reichte ihm ein Tuch und bat ihn, seine Augen zu verbinden, kitzelte ihn dann nach einer Weile erneut am Unterarm. Erstaunt nahm er das Tuch ab und sah mich an.
„Nun weiß ich, was Du meintest. Das will ich auch. Irgendwann, wenn ich eine Freundin habe. Aber erst, wenn sie mir vertraut.“ Begeistert sah er mich an und war sehr aufgeregt.

Zufrieden betrachtete ich ihn und empfand großen Stolz. Er hatte mich verstanden, weil ich die richtigen Worte gefunden hatte. Auch das ließ mich erleichtert sein. Offensichtlich hatte er etwas gelernt, was mir sehr wichtig war, und noch einmal fragte ich ihn, ob nun seine Fragen beantwortet seien, oder ob er noch mehr wissen wolle.

Nein, er wollte nichts mehr wissen, aber reden wollte er. Er erzählte von seinen Freunden, die betrunken auf Partys Mädchen abschleppten, von seiner Sehnsucht, auch eine Freundin zu finden. Traurig sagte er, die Mädchen würden ihn einfach nicht wollen. Sie würden lieber die haben wollen, die schon tränken und bereits Erfahrung hätten, doch ihn wollten sie nicht.
Er jedoch würde, wenn er eine Freundin hätte, nicht gleich mit ihr ins Bett gehen. Er würde ihr Liebesbriefe schreiben, mit ihr etwas unternehmen und dann irgendwann die Sache mit der Feder ausprobieren.

Lachend fragte er dann doch noch etwas: „Was ist eigentlich mit den anderen Sachen im Schrank, Mama?“ Ich schmunzelte und erklärte ihm dann, dass die anderen Sachen sich ähnlich eignen würden, manche allerdings auch ein wenig weh tun würden und das etwas sei, was man nur ausprobieren könnte, ob man das mag, da Schmerz und Lust nahe beieinander liegen würden.

Schelmisch fragte er, ob er sich meine Sachen zu gegebener Zeit ausleihen dürfte und ich musste lachen.
„Na, wo Du so lieb fragst, würde ich Dir dann doch lieber eigene Sachen kaufen. Diese Dinge teile ich nicht. Ebenso wenig wie Gummibären!“ Ich zwinkerte ihm zu und wir lachten herzlich.

Autorin sinna
Webseite der Verfasserin: www.ary-abadon.de/sinna/Sinna-geschichten.html (ICQ: 457264364)

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