Jahrgangstreffen

1.

Irgendwie fühle ich mich ziemlich fehl am Platz. Als ich die Hotellobby betreten hatte und zum ausgeschilderten Saal ging, überwog die Neugierde noch. Doch kaum, dass ich den Raum betreten habe und die Menschenmenge unter einer dumpfen Geräuschglocke vor mir habe, ist da diese Unsicherheit.
Ich gehe weiter und sehe mich um. Die Leute im Raum stehen bereits in Grüppchen bei einander und unterhalten sich. Zum Teil offensichtlich sehr angeregt und amüsiert, zum anderen Teil aber auch eher verkrampft.

In einem Kreis erzählt ein Mann und die Umstehenden hören mit gespielter Aufmerksamkeit zu. An ihrer Gestik erkennt man die Langeweile. Die Rothaarige rechts reibt ihr Sektglas intensiv; in meiner Vorstellung wird das Glas zur arabischen Öllampe, deren Besitzerin sich durch intensives Reiben an einen fernen Ort wünscht. Einen Ort, an dem sie nicht von diesem Langweiler gequält wird.

Obwohl ich mir zu Hause die alten Schulfotos angesehen habe, finde ich noch keine Bekannten. Verdammt! Diese ganzen Menschen hier waren in meinem Jahrgang, es waren ihre Gesichter, die ich vorhin noch in der Abiturzeitung gesehen habe.
Angestrengt versuche ich jemanden zu erkennen. Es wäre eine gute Idee gewesen, am Eingang Namensschilder zu verteilen, aber daran hat keiner gedacht.

Nach einigem Suchen habe ich schließlich doch ein Erfolgserlebnis. Mit großer Zuversicht ordne ich einem Mann mit etwas schütterem Haar den Namen Michael Gringa zu, einem Typen, mit dem ich in der Schule kaum ein Wort gewechselt habe. Ich erkenne ihn an seiner Größe.
Wer einmal zwei Meter ist, schrumpft selten, auch in zwanzig Jahren nicht. Nur dumm, dass ich mit dem auch heute noch nicht reden will. Ich beachte ihn nicht mehr und sehe mich weiter um.

Plötzlich bemerke ich drei Frauen mit strahlenden Gesichtern, die mich heranwinken.
„Na wenn das nicht Gwendoline ist!“ Ich sehe die lächelnde Frau verdutzt an und zermartere mir das Hirn, wer mich da so freudig erregt anspricht. Das kann doch nicht? Oder doch?
„Susanne?“, fragend verziehe ich das Gesicht. Mein Gott. Mit dem unsauber gefärbten Lockenkopf sieht sie schlechter aus als ihre eigene Mutter.
„Susanne bist du das?“ - „Na klar! Hey guck mal, das sind Petra und Karin. Mensch, du hast dich kaum verändert!“

„Na du aber auch nicht!“, lüge ich und nehme sie in die Arme. Während wir uns gegenseitig umarmen, kommen in mir Erinnerungen hoch. Wir vier haben damals eine Menge zusammen unternommen, gingen auf alle Feiern nur im Pulk und das waren nicht wenige. Als dann jede von uns einen Freund hatte, verloren wir uns aus den Augen.

„Etwas ungewohnt ist es ja schon, wo du doch jetzt kurze Haare hast. Aber dein Markenzeichen hast du ja beibehalten.“ Grinsend weist sie auf meine Schuhe. Ich sehe herab und kreise spielerisch mit der Schuhspitze meines hohen Pumps.
„Na siehst du. Dann hat mein Schuhtick schon wieder etwas Gutes bewirkt. Und, na ja, die Haare, das war dann doch irgendwann mal zu lang.“ Ich erinnere mich an den denkwürdigen Friseurbesuch, an dem meine hüftlangen glatten Haare auf den Boden fielen.

Staunend blicke ich auf Karins Oberweite. Sie brauchte früher einen BH so nötig wie eine Sonnenbrille im Tunnel; jetzt jedoch ähnelt sie der Kellnerin von der Oktoberfestreklame. Sie bemerkt meine Blicke und zuckt mit den Achseln.
„Ja, nach drei Kindern verschiebt sich der Körper etwas.“ Wir lächeln über ihre Bemerkung und fahren fort einander zu begutachten.

„Drei Kinder! Toll. Ich gratuliere.“
„Und du?“
„Ich habe keine.“ Sofort erkenne ich den üblichen Ausdruck in ihrem Gesicht. Das Zögern, die stille Frage "Warum nicht?". Petra, die bisher wortlos neben Karin stand, meint, etwas sagen zu müssen.
„Du bist also dabei geblieben? Hast du auch nicht geheiratet?“
Neugierige, erwartungsvolle Blicke treffen mich.
„Nein, diesen Vorsatz habe ich fallen lassen. Ich konnte mich nicht wehren, der Mann hat mich einfach umgehauen!“

In unserem Gelächter bricht das letzte Eis und wie ein Haufen alter Kaffeeweiber quatschen wir los. Eifrig werden die früheren Freundinnen über Familienstand und Kinderzahl unterrichtet. Als kinderlose Frau lausche ich dabei leidenserprobt und mit gespielter Aufmerksamkeit den Schicksalen von fremden Kindern, erfahre etwas über deren Zahnspangen und Hautallergien.
Nur Susanne arbeitet noch. Petra und Karin haben dreizehn Jahre Schule hinter sich und vier Jahre studiert, beziehungsweise drei Jahre Ausbildung gemacht, um nun den heimischen Geschirrspüler bedienen zu müssen.

Nach einer Weile schwenkt das Gespräch dann auf unvergessene Kapriolen in der Schulzeit um. Plötzlich scheint die Vergangenheit tatsächlich hier zwischen uns zu sein, ich erkenne in den Augen und Gesten meiner Freundinnen ihren alten Witz wieder. Erst als auf einer kleinen Bühne der frühere Jahrgangssprecher eine Begrüßungsrede beginnt und den Organisatoren dankt, löst sich unsere Runde auf.

2.

Der Eiswürfel in meiner Bloody Mary dreht sich vor dem Strohhalm im Glas, langsam verschwindet der Pfeffer im Tomatensaft. Ich hatte das Bedürfnis, nach dem Essen ein paar Meter zu gehen.
An den nach Kursen besetzten Tischen hat sich die Sitzordnung inzwischen geändert. Die früheren Cliquen haben sich gefunden und andere hören sensationslüsternd dem prominentesten Mitschüler bei seiner Lebensbeichte zu, nach einem Millionenbetrug erst kürzlich aus dem Gefängnis entlassen.
Ich habe mich von all dem gelöst und wandele an der Schauwand mit den Fotos unserer Abschlussfahrt entlang, mein Glas in der Hand und die Augen auf den fragwürdigen Zeugnissen diverser Hobbyfotografen.

Wie jedermann suche auch ich nach Bildern, auf denen ich selbst bin. Als ich mein jugendliches Gesicht über der Reling des Rheindampfers finde, spüre ich fast die Wassertropfen auf der Haut.
„Hallo Gwen.“ Wie aus dem Nichts ist ein Mann im dunklen Anzug neben mir erschienen.

„Hi.“ Verzweifelt suche ich nach einem Namen. „Tut mir leid, ich erkenne dich nicht.“ Um Entschuldigung bittend lächle ich ihn an. Er ist wohl um die einsneunzig und hat eine sportliche Figur. Dunkle, kurze Haare mit kleinen grauen Stellen an den Schläfen. Seine dunkelbraunen Augen sind irgendwie anziehend.

„Das wundert mich nicht. Ich bin Jan.“ Nach einer Pause fügt er hinzu: „Jan Bodammer. Wir hatten nicht viel miteinander zu tun.“
„Ah ja. Ich erkenne dich. Wir waren in ein paar Kursen zusammen.“ Ich erinnere mich an ein schmächtiges Jüngelchen mit dichten Locken, das eigentlich nie besonders auffällig war.
„Du bist aber groß geworden!“ Jetzt grinse ich ihn herausfordernd an.

Er lacht und kontert: „Ja und du bist richtig fertig geworden.“ Mit einem demonstrativen Blick mustert er mich von oben bis unten, macht deutlich, dass er meine Figur meint. Trotzdem verziehe ich gespielt das Gesicht.
„Oh! Danke. Ich sehe also fertig aus?“

„Ach komm. Du weißt wie das gemeint ist. Du siehst toll aus, eigentlich schöner als damals.“ Dazu nickt er mit dem Kopf zu dem Bild an der Wand, dann sieht er mir in die Augen.
„Noch mal Danke.“ Sekundenlang bleibe ich an seinem Gesicht hängen, er steht mir so nah, dass ich sein Aftershave rieche. Etwas peinlich wird mir das dann doch und ich suche den Ausweg: „Ich habe kürzlich Madonna im Konzert gesehen. Die Frau ist immerhin 43 und sieht noch super aus, wie macht die das bloß?“
„Madonna war mir schon 1982 egal. Du warst mir immer wichtig. Ich habe dich geliebt.“

Seine Worte kommen trocken und direkt, treffen mich völlig unvorbereitet. Das erstaunt mich nun aber doch sehr. Eine merkwürdige Situation. Eine verspätete Liebeserklärung? Ich schaue mich nach anderen Menschen um, aber wir beide stehen hier bei den Fotos völlig allein.
„Ach. Na so was. Das ist mir gar nicht aufgefallen, warum hast du denn nie etwas gesagt?“ Ich nippe an meinem Glas, nur um ihn nicht ansehen zu müssen.
Er wiegt nachdenklich den Kopf und schaut auf die Bilder an der Wand. Sieht er wirklich interessiert hin, oder will er jetzt den Augenkontakt vermeiden? „Warum habe ich nie etwas gesagt? Ich war wohl zu schüchtern, war unsicher ob du mich mögen würdest. Wenn ich dich mal angesprochen hatte, hast du ja kaum reagiert.“

Es muss wohl so gewesen sein - wenn ich mich nur mit Mühe an ihn erinnern kann? Ein weiteres mal versuche ich, die Situation lächelnd aufzulockern.
„Tja, wenn du damals schon so gut ausgesehen hättest, wie heute ... Dann wäre ich dir bestimmt hinterher gelaufen!“ Doch auch dieser Versuch schlägt fehl. Jan grinst nur kurz gequält und spricht dann wieder mit diesem ernsten Gesichtsausdruck.

„Nun ja. Ich war kein Mann, nur ein großer Junge. Als Junge in diesem Alter weiß man, dass viele gleichaltrige Mädchen sich zu älteren Kerlen hingezogen fühlen. Aber das war nicht mein Problem. Weißt du, ich hatte Phantasien, die etwas ...“ Man merkt wie er nach Worten sucht. “... vom Normalen abwichen.“

„Was meinst du denn damit?“ Ich kann meine Neugierde nicht beherrschen und unterbreche.
„Warte. Ich will es dir ja erklären. Wir sind längst alt genug. Weißt du, während für andere Jungen große Brüste oder lange Beine „das Geilste“ waren, da habe ich mehr von Gefühlen geträumt – von besonderen Gefühle.
Ich habe als Kind mal Bilder von einem SM-Paar in die Finger bekommen. Frag mich nicht, woher, ich weiß es nicht mehr - aber von diesen Bildern habe ich über Jahre geträumt.
Ich habe mir ausgemalt, wie reizvoll es sein muss, so eine schöne Frau wie auf dem Bild zu lenken. Eine Frau, die durch ihre Kleidung und Fesseln hilflos ist, sich kaum bewegen kann, völlig in meinen Händen ist. Ich habe mir vorgestellt, wie ich mit ihr spiele und in ihren Augen keine Angst, sondern ergebene Lust finde.
Diese Vorstellung, mit der Geilheit einer Frau zu spielen wie mit einem Brummkreisel, bis ich ihr schließlich einen Orgasmus zugestehe, wenn es mir gefällt, das war für mich der ultimative Kick.“

Er unterbricht und trinkt einen Schluck aus seinem Bierglas. Mit großen Augen habe ich den letzten Sätzen zugehört. Da erzählt mir ein fast völlig Fremder seine intimen Jugendträume, das hätte ich vom heutigen Abend nicht erwartet! Ich sauge an meinem Strohhalm, bis das Gurgeln kommt und die letzten Tropfen Wodka-Tomate hochgezogen werden.

„...und weißt du, warum ich dir das erzähle? Du warst die Frau im schwarzen Korsett und Lederfesseln, die in meinen Träumen vor mir kniete.“

Nun muss ich doch etwas amüsiert lächeln. Kann es sein, dass er mehr über mich weiß, als er eigentlich wissen kann? Hier wird doch wohl keiner einen Streich mit mir spielen? Nein, mir fällt hier niemand ein, der über meine sexuellen Vorlieben Bescheid wissen könnte. Ich beschließe, ihn einfach mal weiter erzählen zu lassen. Es wird ja langsam interessant!
„So, aber du hast dich nie getraut, mich zu fragen, ob ich in deinem Traum mitspielen möchte. Wie kamst du überhaupt auf den Gedanken, dass ich in deine Träume passen könnte, dass mir das Spaß machen könnte?“

Er legt den Kopf etwas schräg und drückt die Lippen zusammen.
„Ich weiß nicht, es war so ein Gefühl. Vielleicht, weil du ständig Schuhe mit hohen Absätzen trägst? Einmal, da war ich kurz davor, dich zu fragen. Du bist in so einem schwarzen Lederkostüm in der Schule aufgetaucht. Das war zwar Mode, okay. Aber als Schülerin? Im Unterricht? Es hat zu dir gepasst, wie die Nase in das Gesicht eines Menschen.
Ich dachte, das wäre ein Zeichen, aber dann habe ich es mir doch verkniffen. Das war, als damals diese Gerüchte hoch kamen, über dich und Anna. Es hieß, man hätte euch gesehen, wie ihr euch geküsst habt. Nun, da habe ich gedacht, dass ich als Mann wohl keine Chancen bei dir hätte und habe weiter heimlich über meinen Magazinen geträumt.“

„Ich bin bisexuell.“ Ich weiß nicht, warum ich diesen Satz einwerfe. Das geht ihn eigentlich nichts an, aber mir ist, als müsse ich ihm helfen, die Fragen der Vergangenheit zu klären.
„Also hätte ich doch Chancen gehabt.“ Er grinst, als würde er sich über ein Missgeschick ärgern.
„Klar. Ich bin übrigens seit Jahren verheiratet.“ Ich lächle und versuche seine Reaktion einzuschätzen. Einerseits klärt meine Äußerung, dass ich auch Männer mag. Andererseits steckt sie aber auch die Grenzen für diesen Abend ab.

„Schön. Ich auch. Und ich kann dir sagen, dass ich heute meine Träume auslebe. Erinnerst du dich an Frank N. Furter aus der Rocky Horror Picture Show? In einem Lied singt er „Don´t dream it, be it!“
Er lächelt in einer Art zurück, die eine ganz merkwürdige Reaktion auslöst. Ich sehe in seine Augen und staune über das ziehende Gefühl in meiner Brust, als würde ein breites, enges Band mir die Luft zum Atmen nehmen.
Wie ein Kaninchen den pendelnden Schlangenkopf ansieht, so starre ich Jan an. Erst als er mit seinem leeren Glas auf meines deutet, löst sich die Situation.

„Du hast auch nichts mehr zu trinken. Gehen wir an die Bar?“ Er dreht sich etwas und schaut über die Tische, an denen die ersten Verabschiedungen laufen. „Ich denke, uns vermisst hier niemand.“
Ich folge seinem Blick und winke kurz Susanne, die gerade herübersieht.
„Ja. Gehen wir an die Bar. Ich könnte jetzt wirklich noch eine Mary gebrauchen!“

Nebeneinander gehen wir an den Fotos vorbei, werfen letzte Blicke auf die jugendlichen Vertreter eines Abiturjahrgangs in Erwartung ihres Reifezeugnis`. Tatsächlich waren wir damals schon reif genug unsere eigenen Fehler zu machen - Chancen zu verschenken. Wäre unser Leben anders verlaufen, wenn er mich damals angesprochen hätte?

„Schläfst du auch hier im Hotel?“ Er spricht die Frage aus, ohne mich anzusehen.
„Ja...“
Gemeinsam verlassen wir den Saal und folgen dem Schild zur Hotelbar.

Verfasserin SweetGwen
Für Mary Bellows

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