Città dolente

Per me si va ne la città dolente. 19 Uhr.

Die SMS erreichte sie, als sie sich gerade schminkte. "Durch mich gelangt man in die Stadt der Schmerzen". Woher kannte sie das nur? Sie tuschte sich die Wimpern. Dante, vielleicht. Um sieben wollte er bei ihr sein, es war kurz nach sechs.
Sie ging in die Küche und schenkte sich ein Glas Rotwein ein. Damit schlenderte sie ins Wohnzimmer und zündete sich eine Zigarette an.
Das war die Inschrift des Danteschen Höllenportals. Oh mein Gott, was machte sie da nur?

Sie hatten sich im Internet kennengelernt. Bereits in der zweiten Mail, wollte er, dass sie sich völlig unterwirft und damit ihren Verstand an ihn abtrat. Keine Kämpfe. Kein Aber. Völliges Vertrauen und auch Gehorsam. Wie naiv. Das konnte nicht gut gehen.
Wieso aber, wieso wollte sie das? Sie hatte weder einen überprüfbaren Namen, noch eine Adresse, nichts. Seine Handynummer, was ein Witz war. Zumal sie diese niemandem gegeben hatte. Sie hatte auch niemandem erzählt, dass er kommen würde. Dass er von ihr verlangte, die Tür zu öffnen und mit Augenbinde und gefesselten Handgelenken auf ihn zu warten. Nackt.
Sie wusste nichts über ihn. Gar nichts, was nicht auch reine Lüge sein könnte.

Dantes Abstieg in die Unterwelt. Welchen Abstieg suchte sie denn? Wie sah ihre Hölle aus? Kam dort grausame Gewalt vor? Eigentlich nicht, dachte sie zumindest, wieso aber, setzte sie sich einem solchen Risiko aus? Ach, es würde schon alles gut gehen und wenn nicht, dann eben nicht. Scheiß drauf. Aber er war OK, sie wusste das irgendwie, hoffte es zumindest.
Sie staunte über ihre Kälte, sogar ihrem eigenen Leben gegenüber. Denn, es ging nicht um ihn. Nein, dafür kannte sie ihn nicht gut genug. Nein, er war eben gerade dann da, als sie ihren Abstieg angetreten hatte. Bot sich als Führer an. Auch über ihre Furchtlosigkeit staunte sie. Darüber hinaus über ihre Überzeugung, stärker zu sein. Stärker als was eigentlich?

Natürlich begehrte sie ihn. Malte sich aus, wie sie geliebt, geschlagen und gefickt wurde im eigenen Rausch des Verlangens. Nach ihm, nach seinem Geruch, den sie ja noch gar nicht kannte, seinen Muskelbewegungen unter seiner Haut. Seinem durchdringenden Blick. Sie konnte das gut.
Verlangen ausmalen. Schmücken. Verbrennen darin. Meist war die Realität aber anders. Es war kein Rausch. Selten. Selbst, wenn es einer war, er war nicht wiederholbar.

Der Reiz des Neuen verflog sehr schnell, sie gab kaum bis gar nichts von sich. Äußerlich schon, natürlich. Mehr als die meisten je bekommen hatten. Aber sie schafften es nicht, sie zu knacken. Sie mit Haut und Haar zu kriegen. In ihrer Vollständigkeit. In ihrem Kontrollverlust, der sich nicht nur auf einen Orgasmus beschränkte. Nur einer schaffte das. Ließ sich nicht täuschen.
Ihre Angst wuchs hier ins Unermessliche. Wieso eigentlich? Wahrscheinlich hatte sie Angst vor diesem Kontrollverlust. Todesangst. Ja, der Tod war die einzige Instanz, die sie wirklich fürchtete. Das Ende.
Dabei war ihr schon klar, dass das Ende ja niemals den Tod meinen konnte, sondern immer das Leben. Aber diese Erkenntnis blieb in irgendeiner Hirnwindung stecken, drang nicht in ihre Eingeweide. Genug davon. Sie wollte es jetzt genau wissen.
Wenn das hieß, gewaltsam zu Sterben, dann wäre das wenigstens ein überzeugendes Argument, sich dem Geschehen zu überlassen, aus Mangel an Wahl.

Es klingelte.
Sie machte die Tür auf, ging ins Wohnzimmer und legte sich die Augenbinde an, dann verband sie die Handfesseln mit einem Karabinerhaken hinter ihrem Rücken. Ihr Herz klopfte. Also hast du doch Angst, dachte sie sich. Na wenigsten das. Das mit den Schmerzen passte ihr gar nicht, aber jetzt war es zu spät. Komme, was da wolle, da würde sie durch müssen.

Sie hörte wie die Tür ins Schloss fiel. Langsame Schritte in ihre Richtung. Sie hatte den Flur mit Friedhofskerzen beleuchtet, auf dem Boden lagen Rosenblätter verstreut. Weihrauch hatte sie auch angezündet, wenn sie sterben sollte, dann wenigstens mit Weihrauchduft in der Nase. Passte auch sehr gut zum metallischen Blutgeruch. Bei der Musik war sie sich nicht sicher. Also ließ sie diese weg. Sie wollte ihn hören. Atmen hören. Wollte ihr Herz klopfen hören, wollte, dass er es hörte.
Er blieb vor ihr stehen. Ganz dicht. So dicht, dass sie ihn riechen konnte. Er fuhr mit den Lippen, sie kaum berührend, an ihrem Gesicht entlang, um ihren Mund herum, an ihren Ohrläppchen vorbei. Dann lief er um sie herum und stand wieder vor ihr. Still.
Er konnte bestimmt ihr Herz klopfen hören. Sie hörte kaum noch was von seinen Bewegungen, ihr rauschte das Blut in den Ohren und ihre Atmung war beschleunigt. Er fesselte ihre Füße und klebte Tape auf ihren Mund. Sie machte sich innerlich darauf gefasst, dass jederzeit eine harte Faust ihr Gesicht treffen könnte. Das beruhigte sie, irgendwie. Dann käme es wenigstens nicht unerwartet.

„Du bist wunderschön.“ Hörte sie plötzlich seine Stimme an ihrem Ohr. Hauchend. Sie mochte seine Stimme. Tief war sie und es schwang etwas Bedrohliches in ihr. Immer, auch wenn er ihr etwas Anerkennendes sagte, wie jetzt eben. Ihr Herz beruhigte sich ein wenig.
Plötzlich packte er sie am Haar und zerrte sie quer durch den Raum. Ihr Herz setzte aus. Kleine Momente der Stille in ihr.

Er machte ihr das Tape ab und lenkte ihren Kopf zwischen seine Beine. Sie hörte an seiner Atmung, dass ihm gefiel, was sie machte. Ruckartig zog er ihren Kopf zurück und sie spürte den Windhauch seiner Worte im Gesicht. „Keine Angst vor dem Bösen Mann?“, fragte er spöttisch.
„Doch“, sagte sie, erstaunlich gefasst. Wohl auch einen Hauch des Spottes um ihre Mundwinkel, ob der dominanten Geste. Er schien nur zu spielen. Ein Psychopath fragt anders, beruhigte sie sich. Glaubte sie, zumindest. Hoffte sie.
„Du bist ziemlich leichtsinnig. Ich gestehe, ich hatte nicht erwartet, dass du meinen Anforderungen kampflos folgst. Ich dachte, du würdest argumentieren, relativieren. Um dein Leben kämpfen.“, sagte er, nicht ohne Anerkennung in der Stimme. „Hast du keine Angst vor Schmerzen?“
„Doch.“
„Und selbst die SMS hat dich nicht abgeschreckt? Ganz schön mutig. Mutet fast selbstzerstörerisch an.“

Was sollte das jetzt werden? Selbstzerstörerisch? Das mochte vielleicht so aussehen. Ihr ganzes Leben war davon begleitet, dass sie Dinge zerstörte, oder das Dinge einfach zerstört wurden und sie sich in dem Wegfallen äußerer Dinge neu definieren musste. Selbstzerstörerisch traf es aber nicht. Nein. Es war viel mehr so, dass das Risiko der Vernichtung der einzige Anreiz war, ein Hindernis überhaupt annehmen zu können.
„Du antwortest nicht?“, er riss ihr die Augenbinde ab und schaute ihr in die Augen.
Nein, er hatte keine Angst. Es war aber auch kein Wahn darin.
„Was hast du denn vor?“, fragte sie leise.
„Das weiß ich noch nicht.“, sagte er, breit grinsend. „Jetzt gehst du mir erst mal einen Kaffee machen“, er befreite ihre Hände und Füße, „und dann kommst du zu mir auf die Couch. Ich will dich kennenlernen.“

Verfasserin Temples


Eine Geschichte, die eine wunderschöne Fantasie ist, aber in der Realität äußerst gefährlich wäre. Bei einem ersten Treffen sollte man sich auf jeden Fall covern lassen. Wie eine solche Fantasie einen anderen Verlauf nehmen kann, wäre in der Geschichte Unvergessen nachzulesen.

 

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