Sommerzeit - Ein Märchen für Erwachsene

Das Prasseln des Regens klang in Caligas Ohren gelangweilt und träge. Obwohl der Himmel ein finsteres Gewand trug und sich die bleiernen Wolken schon seit Stunden über das Land wälzten, war es doch noch immer bedrückend heiß und die schwere Wärme des Sommers klebte über dem Boden. Das nagende Gefühl, beobachtet zu werden, machte sie erneut unruhig und so schlich sie sich wie eine streunende Katze durch die Gassen, immer darum bemüht, mit ihren bloßen Füßen nicht auf die heißen Steine zu treten. Kurz folgte sie dem Duft reifer Äpfel, doch die Stände auf dem Markt boten keinen guten Schutz und seine Gegenwart war überall zu spüren.

Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, eilte sie weiter durch die Stadt, während ihre flinken braunen Augen wachsam nach einem Zeichen ihres Meisters oder Aestors Helfern Ausschau hielten. Nichts war zu sehen. Nervös band sie das rotbraune Haar zu einem Pferdeschwanz zurück. Diese Stadt war kein Ort für sie, es wäre sicherer, zu verschwinden.
Die Rufe der Marktschreier verhallten in der Ferne, als sie zum Tor hinaus kam. Kaum dass sie die Stadt hinter sich gelassen hatte, klarte der Himmel auf und das Grün der Bäume schillerte ihr freundlich entgegen. Schnell ließ Caliga ihre Hände in den Taschen des viel zu warmen Mantels verschwinden, denn es juckte ihr in den Fingern, die Blätter mit neuer Farbe zu versehen. Sie brannte darauf, all dem ein Ende zu bereiten, doch auf offener Straße wagte sie es nicht, Aestor zu provozieren.

Einige Wanderer nutzten den schönen Tag, doch niemand bemerkte sie. Ihre Schritte blieben lautlos, als sie aus einer Laune heraus vom Pfad abwich und sich ins dichte Unterholz wagte. Junge Bäume, die den Winter wohl kaum überleben würden, stritten gierig um das Licht der Sonne, Moos wuchs in saftigen Ballen auf Wurzeln und Stämmen und alles, alles war voll von Leben, drängte sich auf, der Sommer triefte aus jedem Blatt, pulsierte in jedem Windhauch, surrte in Schwärmen tausender Insekten, er war überall. Noch.

Es lag in ihrer Natur, das Verborgene zu lieben, das Stille und in sich Gekehrte, doch wohin sie auch sah, alles schrie nach mehr, alles kämpfte und prahlte, bedrängte sie fast. Unruhe ergriff von ihr Besitz und schließlich hielt sie es nicht mehr aus. Irgendwann musste es beginnen. Mit geübtem Blick suchte sie ihre Umgebung nach Aestors Spähern ab, doch im Augenblick schien es sicher zu sein. Sie nahm einen tiefen Atemzug. Fast bebend spreizte sie die Finger und strich einer jungen Buche zärtlich über den Stamm. Die glatte Borke fühlte sich angenehm kühl an. Caliga lehnte sich gegen den Baum und frischer Wind kam auf, der ihren Herzschlag beschleunigte. Die Buche, gerade noch von sattem Grün gekrönt, beugte sich ihrem Ruf, und es begann. Als würde das Tageslicht der Sonne von glühender Abenddämmerung abgelöst, kleideten sich die Blätter nun in flammendes Gelb und leuchteten wie Feuer.
Tief sog Caliga den Geruch der Pilze ein, die nun in ihren Fußspuren zu wachsen begannen; wo sie war stieg kühler Dunst vom Boden auf und raschelten die Blätter. Die Bäume, Ahorn, Eiche, Buche, Erle, sie unterwarfen sich ihrer Gegenwart, die Natur atmete aus. Summend tanzte sie durch die fallenden Blätter, rot und golden glomm es in den Baumkronen hoch über ihrem Kopf. Diesen Ruf konnte der Meister nicht überhören.

Sie folgte einem kleinen Bach bergan und genoss die kühle Luft aus Norden. Das Ufer war dicht bewachsen, überwuchert in ihren Augen, doch kaum, dass sie sich näherte, sackten die vom Sommer aufgepumpten Triebe schlaff in sich zusammen und machten ihr den Weg frei. Zwischen den Gipfeln sammelte sich das Wasser in einem klaren Gebirgssee, keine Menschenseele war zu sehen, er gehörte ihr. Es erfüllte sie mit dem wohligen Gefühl wachsender Macht, dass sich ihr alles so zu Füßen legte und mit ihr in die Dämmerung tanzte. Ihre Zweifel schwanden mit jedem Schritt und das Land begann ihr Land zu werden. Beschwingt drehte sie sich im Kreis und ließ den Duft von Schnee aus ihren Kleidern steigen, so sorglos fühlte sie sich, dass sie die Bewegung hinter den knorrigen Eichen erst spät bemerkte.
„Du bist zu früh“, seufzte eine warme Stimme, die sie sogleich zum Erstarren brachte. Caliga hielt inne, wich einen Schritt zurück und starrte ihn an, der sich aus dem grünen Licht der Bäume schälte. Seine Augen strahlten in der Farbe des Himmels und sein Haar glänzte hell wie Flachs. Er strotzte von Lebenskraft, seine Bewegungen wirkten stark und doch fließend. Das leichte Lächeln seiner Lippen jedoch erreichte die Augen nicht.


„Hat er dich geschickt, Bote?“, wollte er wissen, „Oder gibt es keinen Grund für diese Dreistigkeit?“ Caliga verneigte sich spöttisch, ohne ihn dabei auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.
„Wir sind im Norden“, lächelte sie, „Hier bin ich nie zu früh, Aestor.“
Mit einer Bewegung seiner Hand wischte er ihre Worte beiseite.
„Norden ist, wo die Bäume nur Nadeln tragen, hier wächst auch Laub und es ist mein Laub, das du vor seiner Zeit zu Boden schickst!“ Er seufzte. „Aber ich will gnädig sein. Wenn du dich mir beugst und sofort von hier verschwindest, soll dir kein Leid geschehen.“

Für einen Augenblick lang war Caliga geneigt, auf sein Angebot einzugehen. Sie wusste, dass seine Blütezeit noch nicht vorüber war, sie sah, dass seine Kraft die ihre noch überbot. Doch sein überlegener, sicherer Blick weckte ihren Kampfgeist und die Arroganz in seiner Stimme lockte alte Erinnerungen hervor. Sie sehnte sich danach, ihn auf Knien betteln zu sehen. Mit ruhiger Hand zog sie die Kapuze zurück und stellte sich vor ihm auf.
„Dieses Land ist die Hitze leid“, kleidete sie ihren Hohn in eine freundliche Stimme, „Ich ebne nur den Weg für meinen Meister, auf dass er es von seinen Qualen erlöse.“
Für einen kurzen Moment glaubte sie, etwas wie Abscheu in seinen Augen zu sehen, doch schnell hatte er sich wieder gefangen und gab sich gelassen.
„Solang du mich nicht unterworfen hast, bin ich dein Meister“, zischte er ihr zu und hob seine Hand in ihre Richtung, „Ergib dich!“
Die Natur gehorchte ihm sofort. Ein warmer Windstoß wirbelte Staub vom trockenen Boden auf und nahm ihr die Sicht. Sie duckte sich vor den sengenden Wellen der Hitze und zog rasch eine dichte Nebelwand aus dem Wasser, die sie vor seinen Blicken schützte.
Inmitten des Dunstes schlich sie um die Bäume und sprang einem Eichhörnchen gleich die Äste einer Kastanie hinauf. Es brauchte nur einen Fingerzeig und die Früchte reiften stachlig wie Morgensterne heran, um ihm auf den Kopf zu regnen. Aestor fluchte.

Geschickt sprang sie auf einen benachbarten Baum und wollte das Spiel wiederholen, doch ihr Gegenüber hatte genug. Die Strahlen der Sonne brannten sich durch das Geäst und zerrissen den Nebel wie Spinnweben. Kaum, dass sein feuriger Blick sie erspähte, schoss ein frischer Trieb aus dem Stamm der Kastanie und wischte sie vom Ast. Ehe sie sich aufgerappelt hatte, stand er über ihr und schnippte mit den Fingern. Noch während sie vor ihm zurückwich, schossen Ranken aus dem Boden, packten sie an Händen und Füßen und zogen sie zum Baumstamm hin. Sie zappelte und versuchte, ihnen die Kraft zu nehmen, doch Aestor ließ nicht locker. In seinen Augen leuchtete blanker Übermut, dem sie mit einem frostigem Blick begegnete als er sie so auf die Beine zog, fest gepackt von Wein und Efeu.
„Du bist ein Schatten deiner selbst“, befand er herablassend, „Was haben wir, August? September? Ich lasse mich ganz sicher nicht von euch vertreiben, ehe meine Zeit verstrichen ist.“
„Dir bleibt nicht mehr viel Zeit“, lächelte Caliga zurück und versuchte ihren Fesseln zu entkommen, während Aestors Kraft ringsumher alles von Neuem ergrünen ließ. „Noch magst du Herr über die Lande sein, doch ein neuer Meister kommt.“
„Er soll nur kommen und ich schmelze ihm die Krone vom Kopf.“ Mitleidig strich er ihr über die Stirn.
„Aber was dich angeht... du weißt sehr wohl, was dich erwartet, wenn du mir so früh in die Fänge läufst.“
Caliga biss die Zähne zusammen und drückte sich mit aller Kraft gegen die Ranken. Ihre Macht raubte den Blättern die Farbe und schon fühlte sie, wie der Druck an ihren Handgelenken schwand.
„Wag es bloß nicht!“, zischte er und klatschte in die Hände. Der Stamm des Baumes erzitterten und begann wild wuchernd zu wachsen, entsetzt musste sie mit ansehen, wie die Äste sich um ihre Hände und Füße wanden, sie spürte das lebendige Holz an ihren Fingern und alles Zappeln wollte ihr nicht mehr helfen. Aestor sah mit Genugtuung auf sie herab.
„Da hast du es. Ich bin dein Meister.“
Sie spuckte aus und blies einen kalten Schwall nasser Blätter in sein Gesicht. Er mochte sie gefangen haben, doch um sie zu unterwerfen musste er sich etwas Besseres einfallen lassen. Ungerührt ließ er es über sich ergehen und strich sich das Laub aus dem Haar.
„So widerwillig?“ Er schüttelte den Kopf. „Du hättest dich besser gleich unterworfen…“
Seinem Willen folgend lichtete sich das Blätterdach über ihnen und gab den Weg für das heiße Licht der Sonne frei. Es brannte gnadenlos auf ihr Gesicht herab und raubte ihr die Kraft. Caliga drehte den Kopf zur Seite, doch den Strahlen entging sie nicht. Schon fühlte sie, wie ihr Widerstand nachließ und seine Macht wuchs.
„Wer ist dein Meister?“
„Nivarius.“
„Falsche Antwort.“

Sie blinzelte vorsichtig unter ihren Lidern hervor, nur um sehen zu müssen, dass Aestor mit einem Fingerzeig Brombeerranken herbeigerufen hatte. Unter seinem bohrenden Blick schlangen sie sich um ihren Leib, die Dornen verhakten sich in den Stoffen ihrer Kleider und rissen mehr und mehr davon herunter. Rot zerkratzt war ihre Haut, als sie zuletzt ganz nackt der Sommersonne ausgesetzt war. Das gleißende Licht blendete sie und die Hitze raubte ihr fast den Verstand. Sie spürte Aestors Finger ihren Hals hinab gleiten und konnte die Wärme und den Fliederduft kaum ertragen, die ihn wie immer umgaben. Sie errötete, doch nicht nur vor Scham. Diesen Sonnenbrand würde sie auch in Tagen noch spüren.
„Na, höre ich etwas Neues von dir?“
Sie schwieg.

„Dann lerne zu genießen, was ich erschaffe, es gibt so viele schöne Gewächse...“
Zwischen Wein und Efeu ließ er neue Triebe aus dem Boden wachsen, erst kitzelten sie nur ihre Fußsohlen, doch schon bald schlangen sie sich ihre Waden hinauf und ein zwickendes Brennen verbreitete sich auf ihren Beinen, dem sie sich nicht entziehen konnte.
„Brennnesseln“, knurrte sie, „Die schicke ich dir hinterher, wenn du nach Süden fliehst!“
„Gefallen sie dir nicht?“, raunte Aestor, „Ich schenke sie dir doch jedes Jahr?“

„Möge es das letzte sein“, presste sie zwischen den Zähnen hervor. Vor langer Zeit hatte ihr Meister die Welt für tausende Jahre in seinem eisigen Griff gehabt. Wer sagte, dass es nicht wieder so sein könnte? Als hätte Aestor ihre Gedanken gelesen, ließen die Brennnesseln endlich von ihr ab. Er verschränkte die Arme vor der Brust und ließ seinen Blick über ihren Körper wandern.
„Dieses Land gehört mir“, sagte er ruhig, „wenn du das nicht akzeptieren willst, wirst du es lernen müssen.“ Ihre Blicke kreuzten sich und Caliga fühlte sich an die unzähligen Kämpfe erinnert, die es zwischen ihnen schon gegeben hatte. Zuletzt hatte sie immer gesiegt, doch so oft schon hatte sie vor ihm knien müssen. Mal, weil er sie mit seiner Kraft dazu zwang, und mal, weil seine Größe bedeutete, dass sie klein vor ihm war.


Aestor summte eine heitere Melodie, während er mit seinen Händen sanft über die lose Erde strich. Unter seinen Berührungen spross saftiges Gras, Schmetterlinge und Libellenschwärme stiegen daraus hervor. Belustigt beobachtete er ihre Gesichtszüge, als auch junge Weiden zu wachsen begannen.
„Hübsch, nicht wahr?“
Noch immer lächelnd brach er eine der Ruten und ließ sie ein paar mal durch die Luft sausen. Caliga sah wildes Verlangen in seinen Augen blitzen und sie wusste, dass ihn die Macht berauschte. Es fiel ihr schwer, den Kopf frei zu halten, denn vor ihr leuchtete Aestor heller als ihre Erinnerungen.
„Nicht... bitte“, versuchte sie ihn umzustimmen, als er die Weidenrute über ihre Haut fahren ließ. Sie wusste, was der Schmerz in ihr bewirken konnte. Das Holz glitt über ihre Schultern, die Brust herab und hielt zuletzt an ihren Schenkeln inne.
„Wer ist dein Meister?“
Sie zitterte.
„Niva-“
Noch bevor sie seinen Namen beendet hatte, zischte der Stab auf sie herab und brennender Schmerz verbiss sich in ihrer Haut. Scharf sog sie die Luft ein und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
„Wie war das?“ Sie hörte das Lächeln aus seiner Stimme heraus.
„Ni-“

Sofort traf sie ein zweiter Hieb, dann ein dritter und sie stöhnte auf. Schmale Striemen zeichneten sich auf ihren Schenkeln ab, die noch von der Sonne gerötet waren.
„Wie du willst“, säuselte er und mit der Leichtigkeit eines Fechters ließ er die Rute wieder und wieder als ein wahres Gewitter von Schlägen auf sie herabfahren, bis sie ihre Schreie nicht mehr zurückhalten konnte. Das Herz schlug ihr wild in der Brust und immer deutlicher spürte sie, dass Aestor sie ganz in seiner Macht hatte. Ihm gehörte das Land. Ihm gehorchte die Natur. Der Winter war fern. Widerstrebend senkte sie den Kopf und versuchte, ihm nicht in die Augen zu sehen. Kaum darauf fühlte sie seine Hand in ihrem Hals, er packte sie an den Haaren und zog ihren Kopf in den Nacken.
„Sieh mich an“, befahl er leise und sie gehorchte widerwillig. So viel Leben, so viel Leidenschaft loderte in seinem Blick, das Licht verwandelte sein Haar in einen flammenden Kranz und der feste Griff hielt nicht nur ihren Leib gefangen. Sein wölfisches Lächeln ließ sie klein werden.
„Wo ist der Spott geblieben, Caliga, habe ich ihn verbrannt? Oder ist da noch mehr in dir, was ich herausfordern muss? Nur zu, die Rute liegt recht gut in meiner Hand... “
Sie schluckte und hatte Mühe, ihre Stimme ruhig zu halten.
„Nein...“
„Nein, was?“
„Nein... Meister.“

Sofort ließ seine Hand locker und als wäre sie eine zahme Katze, strich er ihr sanft durchs Haar.
„Na also“, lobte er und sie spürte, wie die Ranken und Äste sie wieder frei gaben. Erschöpft und zitternd fiel sie auf den Boden, das Laub war weich und vor Hitze flirrte die Luft. Dieses Mal hatte der Sommer gesiegt. Aestor ragte vor ihr auf und verschränkte die Hände hinter seinem Rücken.
„Es ist wohl besser, wenn du nicht lang wartest. Ich gedenke, noch eine Weile in diesen Breiten zu bleiben. Wenn die Erntezeit kommt, werde ich nach dir schicken lassen. Vergiss nur eins nicht: diese Kämpfe müssen nicht sein. Gib mir den Oktober ganz und ich will mich nicht wehren. Ansonsten bin ich wohl gezwungen, dir ein Zeichen einzubrennen, das nicht so schnell wieder verschwinden wird...“
Seine Stimme hatte einen bedrohlichen Tonfall angenommen, doch Caliga hörte ihm nicht mehr zu. Sie kniete vor ihm und sah an seinen Beinen vorbei, hin zum See. Der warme Wind hatte eben noch kleine Wellen auf seine Haut gelegt, doch nun war es vollkommen still. Die Vögel, die Insekten und das Rascheln der Blätter – alles war verstummt.
Aestor schnalzte mit der Zunge und ein Zweig surrte ihr über die Wange, wo er eine feine Spur hinterließ.
„Ich rede mit dir!“, knurrte er, beugte sich herunter und sah sie forschend an, „Bettelst du um mehr? Wenn du schon wieder anfängst, es zu genießen, dann muss ich -“
Seine Augen weiteten sich, als er die Kälte spürte.

„Das bist nicht du...“, murmelte er und wirbelte herum. Caliga erhob sich langsam und strich sich Blätter und Erde von ihrer Haut. Der See breitete sich spiegelglatt vor ihnen aus. Sie schloss die Augen und immer deutlicher spürte sie, wie eine eisige Luft von den Bergen herab wehte. Leise klirrte es, als würden sich tausende feine Risse einen Weg durch dickes Glas suchen, er knackte und knarzte und als sie ihre Augen wieder öffnete, reichte die Eisschicht bis fast zum Ufer heran. Schnee wehte ihnen entgegen und Caliga fühlte sich erwachen. Aestor rief ihr etwas zu, doch sie schritt an ihm vorbei, dorthin, wo aus sich den Schatten des Windes ein hagerer, blasser Schatten erhob. Er schritt barfuß voran, Eisblumen kränzten seine Spuren. In seinem harten Gesicht hatte er ein Lächeln für Caliga aufbewahrt.
„Meister...“, flüsterte sie und verneigte sich tief.
„Nivarius...“, knurrte Aestor und hob eine Augenbraue, „Wie schön. Der Tag ist wirklich voller Überraschungen. Du hast die Zeit also auch vergessen?“
„Wir sind im Norden“, lächelte der andere, „Hier bin ich nie zu früh.“
Nivarius trat an Caliga heran und die Kälte seiner Gegenwart linderte den Schmerz auf ihrer Haut.
„Aber sorge dich nicht, ich bin nur gekommen, um meine närrische Botin zurückzuholen.“ Caliga versuchte es mit einem Lächeln und setzte zu einer Erklärung an, doch auf Nivarius Befehl hin legte sich eine Eisschicht um ihren Mund und brachte sie zum Schweigen.
„Du hättest sie gleich bei dir behalten sollen“, fauchte Aestor, „Ich habe Wichtigeres zu tun, als meine Blätter vor ihr zu schützen! Dass der Oktober mir überlassen wird, ist das mindeste, was ich dafür verlangen kann.“
Nivarius lachte und begann, den See wieder freizugeben.

„Wie könnte ich, alter Freund“, in seinen Augen blitzte es, „wo mir doch kaum etwas so viel Freude bereitet, wie dich von Caliga unterworfen zu sehen. Im Oktober kommen wir wieder. Und dann sind die Karten neu verteilt.“
Caliga zupfte an seinem Ärmel und er befreite sie von ihrem Knebel, kaum dass die Eisscholle sie über den See trug, hin zu den Bergen.
„Ich erwarte euch!“, rief Aestor ihnen noch nach, „Einfach mache ich es euch nicht!“
Caliga lächelte und legte zaghaft ihren Kopf an Nivarius Schulter, als Aestor in der Ferne verschwand.
„Dieses kleine Schauspiel... das hast du nur getan, damit ich dich finde, nicht wahr?“, fragte er mit einer Stimme, die ihr eine Gänsehaut auf den Rücken legte.
„Nun... möglicherweise“, lenkte sie ein, „Es hätte Euch doch gewiss gefallen, Aestor schon im August auf die Knie zu zwingen.“
Nivarius seufzte und schüttelte den Kopf.
„Wäre sein Bote so ungestüm wie du, wir würden die Welt mit Chaos überziehen...“
„Es tut mir leid, Meister.“

„Wie dem auch sei. Lass uns die Zeit nutzen, um uns eine gute Taktik zu überlegen. Auf die Gipfel folgt er uns nicht. Aber bis wir dort sind...“
Seine Augen taxierten sie und Caliga spürte, wie das Eis ihre Füße hinauf wuchs und sie immer fester packte.
„Du weißt, wie ungern ich mich in seiner Nähe aufhalte. Wir sind nicht dafür geschaffen, uns zu begegnen. Dafür, dass du mich regelrecht dazu gezwungen hast, werde ich dich wohl kaum belohnen können.“
„Natürlich nicht, Meister“, gab sie zurück und strich sich nervös die Haare zurück. Seine Hand legte sich an ihr Kinn und wieder fühlte sie sich klein. Dieses Mal aber hieß sie es willkommen. Die Menschen mochten den Winter fürchten, dachte sie, doch wenn es nach ihr ginge, würde seine Herrschaft nie vergehen.

Autorin Nia (Zuerst veröffentlicht als 2. Platz des 3. BDSM Geschichtenwettbewerbs aus dem Gentledom Forum)

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