Erfahrung - Wort, Wunsch und oft Argument

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Erfahrung. Dieses Wort gehört sicher zu jenen, die ich am häufigsten sehe, lese und höre. Ich muss sagen, am liebsten höre ich es maximal beiläufig in einem Satz. „Ah ja, damit hab ich auch schon Erfahrung gemacht“. Oder wenn gefragt wird, wie lange ich oder der andere schon bewusst beim Thema BDSM dabei ist. Es gibt aber auch zwei andere Stellen, an denen mir dieses Wort unangenehm auffällt.

Zum einen ist es bei der Suche von Subs nach dem erfahrenen Dom. Meistens von unerfahrenen Subs, die sich endlich – nach ebenso vielen Sehnsüchten wie auch Zweifeln – ihrer Neigung zuwenden und sich ausleben wollen. Ich verstehe den Gedanken an einen erfahrenen Dom. Wirklich. Oft wünscht man sich eben den, der schon „alles“ weiß und einem zeigt, wovon man bisher nur träumen konnte. Das soll daher keine negative Kritik sein, sondern ein Hinweis. Denn es gibt einen Stolperstein bei diesem Wunsch: „Erfahrung“ ist keine Sache die sich messen lässt und die auch nichts darüber aussagt, welche Erfahrung euer gegenüber bisher gemacht hat. Zehn oder zwanzig Jahre Erfahrung klingen sicher gut, doch niemand weiß, was sich ganz genau dahinter versteckt.

Man weiß nicht, ob dieser Jemand ständig neue Partnerinnen hatte, weil es nie funktionierte. Ob seit zwanzig Jahren die Subs im Wochentakt wegrennen, oder ob mehrere (oder auch nur eine) glückliche Verbindungen hinter ihm liegen. Zwanzig Jahre Mist bauen sind zwanzig Jahre Erfahrung im Mist bauen. Nur wird das niemand dazu sagen, und da ist eine Verbindung zu der Suche nach den unerfahrenen Subs. Der Wunsch in ihr ist da, und wenn nun der Dom im Kontakt sagt er habe viel Erfahrung, wird das selten bis nie hinterfragt. Die Unerfahrene gibt sich leider oft mit dieser schmalen Aussage zufrieden und fühlt sich sicher.

Diese Sicherheit ist jedoch nur Schein, da eine pure Aussage wie „10 Jahre Erfahrung“ absolut nichts darüber aussagt, wie dieser Mensch bisher mit einem Partner umgegangen ist. Es sagt nicht aus, dass er sich aller Risiken bewusst ist, auf seine Partnerin achtet, ein Safeword nicht übergeht, auch nach der Session für sie da ist und so weiter.

Es ist ja schön und gut wenn euch jemand sagt, wie viel Erfahrung er hat. Da ist nichts dabei – das tue ich auch und ich habe es oft genug gehört. Allerdings lasse ich das nicht so stehen, wenn ich jemanden kennen lerne, sondern fange dann an Fragen zu stellen. Jemand der Erfahrung hat, sollte sich im Gegensatz zu Neulingen nämlich mit Sicherheitsmaßnahmen, Risiken etc. auseinander gesetzt haben, den Wunsch nach einem Safeword nicht nur akzeptieren, sondern eventuell selbst eins vorschlagen, ebenso wie er sicher nicht komisch wird, wenn ihr ein Cover haben wollt. Informiert euch selbst über so manche Risiken (z.B. was Schläge betrifft und Körperbereiche, die man nur mit Vorsicht oder auch gar nicht einbeziehen sollte) und dann könnt ihr im Gespräch vielleicht merken, wie bewusst dem Gegenüber diese Dinge sind. Und auch an dieser Stelle noch einmal der Querverweis zum anderen Blog-Eintrag: Zu sagen, dass man 20 Jahre Erfahrung hat und es die einzig wahre „Ausbildung“ nur bei ihm gibt – das beißt sich. Wir können es nur immer wieder wiederholen: Den einzig wahren Weg gibt es NICHT und jemand, der so lange in diesem Bereich unterwegs ist, sollte gelernt haben/wissen, dass BDSM nicht genormt ist und seine Art unmöglich für alle Subs dieser Welt der richtige Weg sein kann.

Der wichtigste Punkt beim Thema Erfahrung ist jedoch ein anderer. Man sollte sich aus einem ganz bestimmten Grund nicht auf diese Aussage verlassen. Egal wie erfahren oder unerfahren ein Mensch ist: Er kennt DICH noch nicht. Er weiß nicht wie du reagierst, vor was du Angst hast oder was sogar Panik triggern könnte. Er weiß nicht wie du aussiehst, wenn du dich unwohl fühlst, wenn dir alles zu viel wird oder ob du noch in der Lage bist zu sprechen, wenn der Ernstfall eintritt. All das liegt im Dunkeln, und keine Erfahrung mit anderen Subs zuvor kann ein Herantasten und neues Kennenlernen mit dir ersetzen. Was für eine Vorgängerin von dir den Himmel auf Erden bedeutete, kann für dich ganz schrecklich sein. Das weiß man vorher nun mal nicht und auch noch so viele Jahre Erfahrungen machen den Dom nicht zum Hellseher. Im besten Fall ist er eben gut informiert, kann im Ernstfall die richtigen Maßnahmen ergreifen und hat sehr viele Ideen im Kopf – ob sie dir gefallen oder nicht, wird auch er erst herausfinden müssen. Er wird dann auch wissen, dass es sein kann, dass dir vieles vielleicht nicht gefällt und dass das Spektrum BDSM so groß ist, dass Dom und Sub nicht zwangsläufig zusammen passen, weil im Profil doch „Dom“ und „Sub“ stand, sondern es die Möglichkeit gibt, dass die Neigung doch nicht kompatibel ist. In diesem Fall wird dir ein vernünftiger und erfahrener Dom jedenfalls nicht sagen, dass es – gegen deinen Willen – so sein muss oder das du keine Sub bist, wenn du es nicht magst.

Also belasst es bitte nicht dabei, euch von der Angabe „Dom“ und der gern als Argument genutzten Erfahrung beeindrucken. Ich könnte mir auch ins Profil schreiben, dass ich Friseurin mit zig Jahren Erfahrung bin. Ein paar Schlagwörter kann ich mir anlesen und eventuell habe ich schon Freunden mehr oder minder erfolgreich die Haare geschnitten. Vielleicht habe ich auch allen die Haare ruiniert. Auf jeden Fall würde man beim live Loslegen merken, dass ich auf gar keinen Fall Friseurin bin. Allerdings würde ich schon vorher auffliegen, wenn man nur genug nachhakt.
Stellt Fragen, lasst die Antworten wirken und stellt im Zweifelsfall wieder Fragen. Hat jemand wirklich Interesse an euch, wird er antworten und auf eure Gedanken eingehen und sie nicht beseite wischen, um wieder über seine Ansprüche zu reden oder erneut seine Erfahrung zitieren, die Grund genug sein soll, damit ihr euch sicher fühlt.

Begegnet mir so etwas in einer Patenschaft, bitte ich die Person, das Thema BDSM einmal komplett aus den Überlegungen zu streichen. Oft tritt dieser Punkt noch vor dem ersten Treffen ein und ich lese einzig und allein Begeisterung, wie erfahren dieser Mensch sein muss, weil er schon ganze Sessions aufs virtuelle Papier gebracht und ihr geschickt hat. Er hat immer wieder betont, wie viel Erfahrung er hat und dass sie sich absolut sicher und gut aufgehoben bei ihm fühlen kann. Ich betone erneut: Das ist alles vor dem ersten Treffen und oft sogar vor einem ersten Telefonat.
Alle, die einmal in die Situation kommen, sich aufgrund solcher Argumentation in eine erste Session zu werfen oder gar ungesehen darauf eingehen wollen, diesem Menschen schon Macht über sich zu geben – stellt euch bitte einmal folgendes Szenario vor:

Ihr seid auf einer Datingplattform unterwegs, die mit BDSM nichts zu tun hat. Dort lernt ihr einen netten Menschen kennen. Der drückt sich gut aus, kann toll schreiben, verspricht euch all eure Fantasien wahr werden zu lassen und überhaupt gibt er euch das Gefühl, die passende Frau für alles zu sein. Statt sich auf einen Kaffee zu verabreden und zu sehen, ob man sich real auch so gut riechen kann und sich erst einmal richtig kennen zu lernen kommt nun aber folgendes:
„Gut. Du willst ja auch – wir heiraten morgen. Du kannst mir vertrauen. Ich kenne mich aus und habe da viel Erfahrung – ich war schon mal verheiratet.“

So, sagst du dann sofort „Ja, ich will!“
Oder wäre die Reaktion eher: „Hey, Moment. Das kann man doch nicht vergleichen! Ich bin sicher nicht genau wie deine Ex!“

Mag ein etwas überzogenes Beispiel sein, doch hier und da lohnt es sich sicher, BDSM einmal aus den Überlegungen zu entfernen, denn auch wenn es hier um ganz bestimmte Dinge geht, über die nicht unbedingt jeder spricht und viele unbekannte Begriffe auf einen einstürzen – soooo anders ist es nun auch wieder nicht. Dieser „Bonus“ BDSM in unserer Suche ändert nicht alles, und nur weil es jetzt ein Teil von uns ist, muss es nicht außer Kraft setzen, wie wir zuvor reagiert hätten. Wie so oft gilt: BDSM ist kein Argument, alles anders machen zu müssen und ohne BDSM wären wir vermutlich auch nicht schneller in einer Affäre oder Beziehung, weil der Mensch vor uns sagt, dass er so etwas schon einmal/mehrfach hatte. Von daher lieber einmal auf die Bremse steigen, wenn man von der häufig genannten Erfahrung beeindruckt ist. Man kann kann mit einem im Bereich BDSM erfahrenen Menschen ebenso gute und schlechte Erfahrungen machen, wie mit jemandem, der ebenfalls neu dabei ist. Um ausführliche Gespräche und ein besseres Kennenlernen kommt man meistens nicht herum. Es geht bei weitem natürlich nicht immer schief wenn es schnell geht, doch nur das Schlagwort „Erfahrung“ sollte nicht ausreichend sein, um sich sicher zu fühlen.

Und als Bonus eine Beobachtung – nach einigen Jahren im Patenteam: In den meisten meiner Patenschaften, in denen schlechte Erlebnisse zur Sprache kamen, gab es keine unerfahrenen Doms in der Vergangenheit, sondern eben solche Doms, die vorab versprochen haben, dass garantiert nichts Schlimmes passieren werde, weil sie sehr erfahren wären, Sub sich keine Sorgen machen müsse und sie sich ihnen ganz und gar anvertrauen könne.


Kommentare:


Stiene schrieb am 13.03.2020


Vielen Dank für diesen interessanten und vor allem auch informativen Beitrag.


Antwort auf diesen Kommentar

Luisa schrieb am 06.02.2019


Spannend und schön dieses Thema nochmals anders beleuchtet zu lesen. Ich kannte schon den Artikel https://gentledom.de/schlagwoerter/sonstiges/stellenwert-der-erfahrung/ und beide Sichtweisen zusammen ergeben ein noch besseres Bild über den Stellenwert von (angeblicher) Erfahrung.


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