Blind Date
Träge rappelte sie sich hoch und blickte dem grauen Morgen entgegen. Ihr Blick schweifte über feucht glitzernde Häuserfluchten mit ermatteten Fensteraugen und blieb an einem sich stetig vergrößernden, gelben Farbklecks hängen. Gelb?! - Sie sprang aus dem Bett - die Post!
Schwungvoll riss sie die Tür auf und blickte einem verdatterten Mann in viel zu großer Jacke, riesigem Schal und abgewetzten Handschuhen entgegen. Ihre Blicke trafen sich kurz, dann wanderte seiner hin zu ihren ausgetretenen Schlabberlatschen und dem gerade eben noch übergeworfenen Bademantel, hoch zu ihrem erwartungsvollen Gesicht.
"Na, auf die Rechnungen hier warten Se nich", sagte er und streckte ihr ein kleines Bündel dünner Briefe entgegen. Nun war sie verdattert. "Nein, da haben Sie recht", murmelte sie und schlug enttäuscht die Tür zu.
Achtlos legte sie die seelenlosen Briefe auf den
Küchentisch und wollte sich soeben der Kaffeemaschine zuwenden - da
klingelte es an der Tür.
"Aber darauf warten Sie", sagte eine kichernde Stimme hinter einem großen Briefumschlag.
"Ouach Sie... ", sie stoppte. "Äh ja, vielen Dank – ja, genau darauf
warte ich. Schönen Tag dann noch." Sie schlug die Tür lauter als
beabsichtigt zu und flüsterte: "Sie Sadist, hätte ich beinahe gesagt."
Hastig wollte sie an der Verpackung reißen,
überlegte es sich, mit einem Blick auf das sorgfältig von Hand
geschnittene und geklebte Papier, doch anders und legte den Brief mit
fast zärtlicher Geste vor sich auf den Tisch.
Andächtig griff sie zu
dem schweren, silbernen Brieföffner und durchschnitt in einer
fließenden Bewegung das Papier. Mit den Fingerkuppen fuhr sie die klare
Schnittkante entlang, bevor sie die Seitenwände trennte, die so zwei
knisternde, dünne Blätter frei gaben.
Ich erwarte Dich!
„Ich erwarte Dich!“ stand da! Dazu zwei Zugtickets,
eines für den Hin- und eines für den Rückweg im Abstand von drei Tagen
und eine samtene Augenbinde, mit dem Hinweis, diese nach Verlassen des
Bahnhofs anzulegen, mehr nicht.
Sie drehte und wendete das Papier,
riss grob die Seiten des Umschlages auseinander, aber mehr war da nicht.
'Scheißkerl', dachte sie, faltete ihre kalten Hände und schob sie wie
als kleines Mädchen im Winter in der Bahn zwischen ihre warmen Schenkel.
Eine kleine Ewigkeit später löste sie sich aus ihrer Verkrampfung und
stellte fest, dass sie das Samtband mit ihren Händen zwischen die
Schenkel gepresst hielt. Sie ließ es neben sich gleiten, schnappte sich
ihre Kuscheldecke, lehnte ihre Stirn an das kühle, zart duftende Leder
des Sofas und sank in einen unruhigen Schlaf…
Ihre Stirn berührt die kühlende Scheibe und sie
betrachtet missmutig die vorbeiziehende Landschaft. Felder und
Ortschaften, die mehr eine Ansammlung trostlos zurückgelassener Gehöfte,
als Zentren menschlichen Lebens waren, wechseln mit Stücken zerrissenen
Waldes.
Sie fröstelt leicht in ihrem zartem Kleid und schlingt sich
gedankenverloren eine Jacke um ihre vom langen Kauern schmerzenden
Schultern, während sie dem Mantra aus klackender Abteiltür und
Schienengeräusch lauscht.
Im selben Moment, da sie ihr Gleichgewicht
verliert und gegen die gegenüberliegende Sitzbank geschleudert wird,
durchbricht ein spitzes metallisches Kreischen die Geräuschkulisse.
Sekundenbruchteile später wird die Schiebetür zu ihrem Abteil
aufgerissen, behandschuhte Hände reißen sie grob nach oben und zerren
sie Richtung Ausgang.
Völlig perplex stolpert sie dem von Kopf bis Fuß in schwarzes Leder gekleideten Mann hinterher.
Erst an der Wagontür erwacht sie aus ihrer
Benommenheit und stemmt sich ihm mit voller Kraft entgegen, doch der
massige Körper drängt sie weiter nach draußen. Ihre Hiebe prallen an
seinen abwehrend erhobenen Armen ab und auch ihre Tritte verpuffen
wirkungslos an den in schweren Stiefeln steckenden Schienbeinen.
Sie
kämpft verzweifelt und wie ein wildes Tier, ihr Blut rauscht in ihren
Ohren, während sie immer kraftloser und schwerfälliger versucht, ihren
Angreifer abzuwehren. Im letzten Moment klammert sie sich an die
Haltegriffe der Tür, doch sie wird fortgerissen und ihr Hilfeschrei
erstickt in der auf Mund und Nase gepressten Hand.
Er zerrt sie über die aufgeworfene Erde eines
jener Äcker, die sie gerade noch mit verächtlicher Langeweile betrachtet
hatte, bis zu einer Scheune, deren schwere Türen sich quietschend
öffnen, bevor sie den Weg in einen Raum modriger Kühle freigeben.
Abrupt lässt er sie los und stößt sie von sich. Taumelnd landet sie auf
dem gestampften Lehmboden zu seinen Füßen und versucht eilig, Arme und
Beine schützend zu heben. Doch da werden ihr die Arme schon nach oben
gerissen, mit sicheren, geübten Bewegungen mit Seilen umschlungen und
über den Kopf an Giebeln befestigt. Noch bevor sie an ihren Fesseln
reißen kann, bringt ein Blick aus eiskalten, blauen Augen sie zum
Erstarren.
Verzweifelt versucht sie halb stehend, halb hängend das
Gleichgewicht zu behalten, während ihr Sommerkleid in Fetzen von ihrem
Körper gerissen wird...
Mit einem Ruck erwacht sie aus ihrem verstörend, erregenden Traum. Hitze hat sich in ihrem Körper gesammelt und bahnt sich den Weg nach außen, bemächtigt sich ihrer Oberfläche, nur um noch tiefer in ihr Innerstes zu stoßen.
Als die Wellen langsam verebben und sich ihr Blick wieder klärt, entdeckt sie einen seltsamen Abdruck auf der zart weißen Haut ihrer Innenschenkel. Sie löst das schwarze, samtene Band von ihren Händen, welches sie unbemerkt immer enger um sich geschlungen hatte und entdeckt eine kleine, zart gestickte, rote Katze in der Mitte des Bandes. Wie einen Stempel hat sie diese Prägung auf ihren Körper gedrückt.
Sorgfältig faltet sie das Band zusammen, schiebt es in die Innentasche ihres Mantels zu den Zugtickets und schließt die Wohnungstür mit leisem Klacken. Zaghaft, bewusst einen Fuß vor den anderen setzend, nimmt sie die Treppe hinab zur Haustür und tritt ins Freie - ihrem schwarzen Traum entgegen.