Erwartungsspirale und Aufprall

Dezent beginne ich mit den Füßen unter dem Tisch zu scharren und verstohlen die Uhr schräg vor mir zu fixieren. Um mich herum Menschen mit sich bewegenden Mündern, hin und wieder fragenden Augen, kraus gezogenen Stirnen und fuchtelnden Armen. Dem Inhalt des Disputs kann ich schon seit geraumer Zeit nicht mehr folgen, denn ich verfolge den unaufhaltsamen Lauf des Zeigers auf der Wanduhr. Aber die in die Luft geworfenen Arme verraten mir: Es gibt keine Möglichkeit, mich unauffällig und höflich zu verdrücken. Komisch - Wochen, Monate lang wollte die Zeit nicht verstreichen, und jetzt, wo ich nur noch Tasche packen, mich duschen, Haare waschen und mich schön machen will, um dann wie aus dem Ei gepellt meinen Zug zu erwischen, rennt sie. Es kommt, wie es kommen musste! Ich hetze kurz vor knapp aus dem Büro und erreiche den Zug nur deshalb noch, weil ich zu Hause lediglich ein Paar Sachen mehr oder minder wahllos in den Koffer geschmissen habe. Kurz und gut: Nach hastigem Aufbruch und enervierend langer Fahrt steigt keine Femme fatale, devote Lustsklavin oder Spielkätzchen aus dem Zug, nein, den Bahnsteig betritt eine erschöpfte Frau, die nichts weiter will als eine Dusche, ein sauberes Bett und jemanden, der ihr die Taschen bis dorthin trägt.

Es ist schön und erregend, sich die gemeinsame Flucht aus dem Alltag im Chat, während nächtlicher Telefonate, in gemeinsam ersonnenen Geschichten und romantischen Briefen farbenprächtig und detailreich auszumalen. Es hilft die räumliche Distanz überbrücken, man kommt sich näher und lernt die Vorstellungen, Wünsche und Reaktionen des anderen kennen. In gemeinsam entworfenen Szenarien schlüpft jeder in sein besonderes Gewand, nimmt die ersehnte Rolle ein und gibt sich dem Treiben völlig unbelastet hin.

Aber man darf eben nie vergessen: es kommt erstens immer anders und zweitens als man denkt. Die Tür zum gemeinsamen oder getrennten Alltag schließt sich nicht mit einem Ruck und niemals ganz, immer werden Bestandteile des „normalen“ Lebens hindurchwabern. Der Versuch, all die Ritzen und Löcher zu stopfen, durch welche diese strömen, kann nur scheitern und die gemeinsame Zeit verderben.

In der Bahnhofshalle wartet ein bekannter und doch völlig fremder Mann auf mich. Ist er, der versucht mir die Tasche abzunehmen und mir vorsichtig einen Kuss auf die Wange gibt, derselbe mit dem ich mich virtuell erst gestern noch in den Laken wälzte? Immer wieder den gegenseitigen Blick suchend bahnen wir uns gemeinsam den Weg durch das Feierabendchaos einer Großstadt. Wir halten Ausschau nach Bus und Bahn, verirren uns, verlieren die Richtung und finden erst mal einen Stuhl, einen Tisch und einen Kaffeebecher, an dem man sich festhalten kann. Einen sicheren Hafen, von dem aus jeder Blicke und kleine Gesten wie Taue über die Reling an Bord des Gegenübers werfen kann. Zaghaft kommt ein Gespräch ins Plätschern, und während jeder von seinem gestern, letzte Woche und „gerade eben noch“ erzählt, weicht meine Anspannung, und ich komme langsam im Hier und Jetzt an.

Dampfkesselartig hatte sich der Druck über die letzten Wochen bei mir angestaut, die hin und her fliegenden Worte gaben dem Feuer der Erwartung erst noch richtig Zunder. Und nun in dem herbeigesehnten Moment ist scheinbar nichts so wie es sein sollte. Oder doch? Hat er nicht gerade das nervöse Nesteln meiner Hände in den Haaren mit diesem für ihn typischen spöttisch verzogenen Mundwinkel quittiert?

Es bringt nichts, krampfhaft an den aufgebauten Vorstellungen festzuhalten, das Leben ist in konstanter Veränderung, und wir mitten drin, auch wenn wir uns gerade herausnehmen wollen. Es hilft viel mehr, sich die Zeit zu nehmen, beieinander anzukommen. Behutsam die Fühler auszustrecken, um zu ertasten wo der andere gerade steht. Gemeinsam die Welt für einen Augenblick an sich vorbeirauschen lassen hilft mehr dabei, den Alltag mit seinen Anforderungen auszublenden, als ein vorgegebenes Programm abzuspulen. Kleine Rituale und Gesten können helfen, dem Partner zu symbolisieren, wann die Bereitschaft da ist, das „andere Ich“ herauszukehren.

Der Druck seiner starken Hände an meinem Schenkel unter dem Tisch sagt mir, dass aus dem zaghaften Mann von eben so langsam ein gieriger Mistkerl wird, das übertriebene, theatralisch, demonstrative Abrücken meinerseits von ihm zeigt ihm, dass das Spielkätzchen Oberwasser bekommt. Die spöttische Bemerkung, dass ich wohl erst noch etwas Zeit im Badezimmer brauchen werde, welche von mir mit in seinen Kaffee geschüttetem Salz anstelle des geforderten Zuckers honoriert wird, sagt uns: es wird Zeit aufzubrechen. Denn wir haben die Richtung und können zusammen segelnd das Ziel nicht mehr verfehlen.

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