Mittwoch

Ruhig ist es auf dem Flur, keine Reaktion auf mein Klopfen, keiner den ich fragen kann, ob ich jetzt einfach reingehen soll, in Zimmer 511. Weiter rumstehen ist aber in jedem Fall öde. Also mache ich die Tür auf. Ziemlich klein, der Raum. Definitiv zu klein für eine Gruppenturnstunde. Aber es ist auch keine Umkleide oder so, keine weitere Tür woandershin, und die Einrichtung sieht eigentlich auch einfach nach Behandlungsraum aus. Weiter komme ich nicht in meinen Überlegungen, denn von der Seite kommt eine Mittdreißigerin schnellen Schrittes auf mich zu, die mich auch gleich anspricht: "Sie sind bestimmt der Herr Schneider..." - "Ja" - "... ich bin Schwester Karin, sorry das ich nicht ganz pünktlich kommen konnte, mein letzter Patient hatte einen kleinen 'Zwischenfall', legen Sie sich doch schon mal auf die Behandlungscouch, dann fangen wir gleich an, ich will Sie ja nicht um Ihre wohlverdiente Therapie bringen..."

Wirkt sympathisch, die Frau, da stelle ich meine Neugier mal zurück und frage nicht nach dem "Zwischenfall". Ich lege mich etwas ungelenk auf die Couch, und Schwester Karin ahnt wohl, dass ich keine Ahnung habe, worum es hier eigentlich geht.

"Sie sind zum ersten Mal bei der Darmgymnastik?" - "Ja" - "Ach so, dann sollte ich vielleicht noch etwas erklären... also Ihr Darm arbeitet nicht mehr so, wie er das sollte, und Ihr Arzt hat festgestellt, dass die Ursache einfach nur aus einer allgemeinen Muskelschwäche besteht, die bei Ihnen auch und insbesondere den Darm betrifft. Sie wissen ja bestimmt, dass der Darm ein langer Muskelschlauch ist, und dieser Muskel muss sich und die in ihm enthaltene Nahrung bewegen, damit die Verdauung funktioniert. Aber Muskeln verkümmern, wenn sie wenig zu tun haben, und Sie haben der Akte nach erst durch ungesunde Lebensführung und dann noch durch monatelangen Gebrauch von Abführmitteln Ihren Darm praktisch 'stillgelegt' - nur noch fast flüssigen Stuhl ausscheiden unterfordert die Darmmuskeln noch schlimmer als Ihre unbewegliche Lebensweise zuvor! Wussten Sie, dass ein unbewegter Muskel binnen 14 Tagen 50% seiner Kraft einbüßen kann?"

"Nein..."

"Um die Kraft Ihrer Darmmuskeln wieder aufzubauen, müssen wir also dafür sorgen, dass sie sich kräftig bewegen."

"Und - wie soll ich mich denn nun bewegen?"

(Lacht): "Nicht Sie, Ihr Darm, der muss sich kräftig bewegen. Das können Sie nicht willkürlich auslösen, die Muskeln Ihres Darmes werden vom vegetativen Nervensystem gesteuert, dass geht sozusagen automatisch..."

"Ja dann muss ich also einfach nur etwas essen? Prima, ich habe sowieso schon ziemlichen Hunger!"

"So einfach ist das leider nicht, denn Ihr Darm reagiert ja eben nur noch so schwach auf normale Ernährungsreize, dass die Verdauung ins Stocken gerät. Bis wir Ihren Darm auf Trab gebracht haben, müssen wir also drastischere Reize setzen..."

Wie zur Unterstreichung ihres letzten Satzes wedelt Schwester Karin mit einem Darmrohr, und plötzlich wird mir klar, dass ich vielleicht doch viel lieber mit der Gruppe Übergewichtiger rumgehampelt wäre, und dass mir diese Therapie womöglich nicht so gut gefallen wird...

"Heißt das, ich bekomme jetzt dauernd Einläufe...?!?"

"Nein. Und ja. Nein, wir können Ihren Darm nicht jedes Mal mit Einläufen zur Bewegung anregen, denn daran würde der sich gewöhnen. Und ja, Sie werden jetzt wohl jeden Tag einen kleinen Reinigungseinlauf erhalten, der Ihren Darm sauber hält, denn für die Darmgymnastik brauchen wir einen ordentlich sauberen Darm. Aber das kennen Sie ja schon... hmmm... wobei ich gerade in Ihrer Akte eine Notiz von Schwester Julia sehe, Sie sind wohl nicht so gut darin, Ihren Einlauf bei sich zu behalten - na ja, vermutlich ist auch der Schließmuskel schwach geworden, ich werde den Arzt mal darauf ansprechen. Wir nehmen also besser gleich das Ballondarmrohr."

Julia, dieses Biest! Das Ganze war doch so schon unangenehm genug, und jetzt das noch, und natürlich wusste Schwester Julia ganz genau, dass ich mich jetzt nicht noch mal blamieren will, und das Missverständnis aufkläre... also werde ich diese "verschärften Bedingungen" wohl still ertragen müssen...

Schwester Karin legt das Darmrohr in die Schublade zurück und nimmt stattdessen eines heraus, das zwei Ballons hat, die sich durch separate Luftzuführungen aufpumpen lassen. Sie fettet (ja, fettet, ist wohl Silikonmaterial, später erklärte sie mir mal, dass wasserbasierte Gleitmittel für die Darmgymnastik zu schnell abbauen) das Doppelballondarmrohr gut ein, und schiebt es in meinen After, was ohne große Unannehmlichkeiten geht, da ja in letzter Zeit schon öfter mal was da reingeschoben worden war. Immerhin, denke ich, dafür kann sie DEN jetzt nicht beliebig weit in den Darm hinaufschieben, das war damals bei der Doppelkontrast-Röntgenuntersuchung ziemlich unangenehm gewesen, als der Arztgehilfe das Darmrohr weiter und immer weiter in mich hineingeschoben hatte.

Aber Schwester Karin kann wohl Gedanken lesen: "Glücklicherweise müssen wir das Darmrohr diesmal nicht weit einführen, denn heute werden wir Ihren Darm nur durch den mechanischen Druck zur Bewegung reizen, und der verteilt sich ohnehin gleichmäßig." Mit diesen Worten steckt sie ein kurzes Kunststoffröhrchen an das darmferne Ende des Einlaufschlauches, aus diesem Röhrchen kommt ein Kabel mit 5- poligem Stecker, den Schwester Karin in ein kleines Gerät einsteckt. Sie schaltete das Gerät an und dreht an einem Regler, bis ihr der Wert auf einem kleinen LC-Display richtig erscheint. Neben dem Display befinden sich drei Leuchtdioden, eine grüne ist an, eine gelbe und eine rote sind aus. Während ich zu erschließen versuche, was der Apparat wohl macht, beginnt Schwester Karin auch schon zu erzählen: "Das kleine Kunststoffrohr enthält einen Druckmesser und ein Ventil. Der Apparat misst bei geschlossenem Ventil, ob der Druck charakteristisch schwankt, was auf Darmbewegungen schließen lässt - dann geht die gelbe Lampe an, und das Ventil bleibt zu. Fehlen die Bewegungen, dann geht die gelbe Lampe aus, das Ventil geht auf und die grüne Lampe leuchtet. Sobald wieder Bewegungen da sind, schließt das Ventil wieder."

Bis jetzt hatte ich gar nicht bemerkt, dass bereits Wasser in mich hineinlief, ist wohl eine körperwarme, isotonische Salzlösung, die in gemächlichem Tempo ihren Weg durch das Rohr nimmt. Vermutlich deshalb hat es Schwester Karin auch gar nicht eilig, die Ballons aufzupumpen. Jetzt will ich aber noch den Rest wissen: "Und wozu ist die Anzeige und die rote LED?"

"Wenn der Darm nicht mehr mit Bewegungen auf den steigenden Druck reagiert, kann man ihn natürlich nicht endlos füllen, sonst würde er irgendwann platzen. Deshalb kann man einen sicheren Maximaldruck einstellen, wenn der erreicht ist, dann geht die rote Lampe an und das Ventil schließt dauerhaft. Für die Darmgymnastik könnte es dann auch eigentlich ganz aufmachen und das Wasser ablassen, denn ohne Darmbewegung kein Trainingseffekt. Aber es gibt ja auch andere Anlässe, bei denen man den Darm definiert befüllen will, und außerdem motiviert es manche Patienten, die Darmbewegungen nicht unterdrücken zu wollen, wenn sie wissen, dass das doch nichts bringt..." - jetzt interpretiere ich in ihre Stimme erstmals einen leicht sadistischen Unterton hinein...

Die LCD-Anzeige zeigt weiter langsam steigende Zahlen, und ich beginne doch so etwas wie Druck zu verspüren.

Schwester Karin scheint gerade den ersten Ballon aufpumpen zu wollen, als sie doch noch innehält: "Wenn wir gerade mit dem Druckregler dabei sind, dann können wir eigentlich auch gleich messen, wie es um den Selbsthaltedruck bestellt ist... also ich lasse die Ballons jetzt erst mal unaufgepumpt, und lege ein Löschblatt unter Ihren Anus. Sie halten den Einlauf, so gut Sie können. Sobald der erste feuchte Fleck auf dem Löschpapier erscheint, notiere ich den Druck in Ihrer Akte, dann kann der Doktor den Wert für das Schließmuskeltraining berücksichtigen."

Lange kann ich nicht darüber nachdenken, ob ich das für eine gute Idee halte, denn plötzlich überkommt mich der erste Krampf, und schon spüre ich, wie sich ein paar Tropfen am Darmrohr vorbei schlängeln. Die gelbe LED geht an, die grüne aus, Schwester Karin schüttelt leicht enttäuscht den Kopf und notiert den aktuellen Wert auf dem LC-Display. Als sie zu den Blasbälgen greift, um die Ballons aufzupumpen, ist der Krampf schon vorbei und ich glaube, eigentlich alles noch unter Kontrolle zu haben. Schwester Karin weiß sehr genau, wie oft sie pumpen muss, um die Ballons auf eine wirksame, aber erträgliche Größe zu bringen. Ich seufze leise ob des zusätzlichen Druckgefühls.

"So, " sagt Schwester Karin, "jetzt lasse ich Sie mal alleine trainieren, in einer Stunde bin ich wieder da, dann ist die 'Turnstunde' für heute um!". EINE STUNDE? Fassungslos ob der sich andeutenden Grausamkeit frage ich fast flehentlich: "Sie wollen mich doch nicht etwa EINE STUNDE unter Krämpfen hier leiden lassen?!?" - "Na hören Sie mal, was Sie hier 'Krämpfe' nennen, das ist einfach nur ein normal arbeitender Darm... auch wenn für Ihren diese Arbeit wohl ungewohnt ist. Vielleicht werden Sie später mal Gelegenheit haben, echte Darmkrämpfe kennenzulernen, aber dazu muss Ihr Darm erst mal wieder richtig arbeiten können...". Bevor mir passende Worte für einen Appell an ihr Mitgefühl einfallen, hat sie den Raum verlassen und wünscht ein flüchtiges "... bis nachher..."

Die gelbe LED ist längst wieder erloschen und mein Darm füllt sich unaufhörlich mit mehr Wasser, es drückt schon richtig unangenehm, fast wünsche ich mir wieder solche "Darmbewegungen" wie eben, damit der Druck nicht noch weiter steigt. Da kommt mir eine Idee: Warum nicht einfach den Apparat überlisten? Ich lege meine Hand auf den linken Unterbauch, und drücke rhythmisch leicht mit den Fingern dagegen. Das ist zwar auch nicht angenehm, aber wenn ich das Wasser damit wenigstens aufhalten kann...

Es funktioniert nicht. Ich variiere Tempo und Stelle, aber die gelbe LED bleibt aus. Noch eine Variation - ich drücke mit Daumen und Zeigefinger den Schlauch etwas zusammen. Da, endlich, jetzt geht sie an, die gelbe LED, ich bin gerettet! Sie geht wieder aus. Wieder an. Wieder aus. Sie blinkt?!? Was ist jetzt los?

Die Tür geht auf, eine Sekunde sieht Schwester Karin in mein verwirrtes Gesicht, dann sieht sie zum Apparat, sieht, dass die gelbe LED blinkt. Ich sehe zur Uhr - erst 10min sind um.

"Ach so ist das!" ruft Schwester Karin, halb ernst, halb gespielt entrüstet - "Wir haben hier einen kleinen Betrüger... tja, auf den Hersteller ist Verlass - das Gerät kann bestens zwischen echter Darmperistaltik und primitiven Täuschungsversuchen unterscheiden... und das Ventil ist auch schon wieder offen... na, als kleines Dankeschön für den erfolgreichen Test dieser Funktion werde ich den Maximaldruck mal ein bisserl erhöhen, da ist ja noch jede Menge Sicherheitsspielraum drin... und beim nächsten Mal weiß ich dann schon, dass wir es hier mit einem mangelhaft kooperativen Patienten zu tun haben... sehr unvernünftig, Herr Schneider..."

Ich komme nicht mehr zu Entschuldigungsversuchen oder Geständnissen, denn Schwester Karin hat das Zimmer schon wieder verlassen.

Noch 50 Minuten. Oh Gott, es drückt so schrecklich, und mein Darm will sich einfach nicht bewegen. Oder ist der Apparat defekt? Habe ich ihn am Ende kaputt gemacht? Auuuuu... er bewegt sich wieder, warum muss das nur so höllisch weh tun... und schon geht die gelbe LED an. Immer wieder spüre ich schmerzhafte Wellen durch meinen Unterleib fahren, kaum ein Trost, dass das Ventil nun erst mal zu ist.

Ich schwitze. Ich stöhne. Es ist furchtbar, warum nur muss ich so leiden - nur wegen ein paar Jahren Junk-Food? Oder doch eher wegen der Abführmittel.

Ich schaue auf die Uhr. 30 Minuten sind um. Gerade glaube ich, dass es etwas erträglicher geworden ist, da geht die gelbe LED aus, gleich darauf die grüne wieder an, und der Druck in meinem Bauch wird noch unerträglicher, als er ohnehin schon war.

In diesem Moment geht die Tür wieder auf, und Schwester Karin betritt erneut den Raum. Die plötzlich aufgerissene Tür erschreckt mich so, dass ich kurz zusammenzucke, und irgendwie führt das dazu, dass wieder ein paar Tropfen Wasser vorbei an den Ballons meinen Darm verlassen.

Schwester Karin sieht zufrieden aus, als sie die Situation erfasst hat - den Druck, meinen schweißüberströmten Körper, mein leidendes Gesicht und dann noch den verbreiterten Fleck auf dem Löschpapier. Sie greift beherzt zum Blasebalg für den inneren Ballon, drückt ihn kräftig und kommentiert zynisch "Oh, da müssen wir dem Herrn Schneider wohl noch ein bisschen helfen, sein Wasser zu halten."

Jetzt schmerzt der innere Ballon, aber dieser Schmerz hat immerhin ein gutes: Mein Darm beginnt wieder zu arbeiten, das Ventil schließt sich, dafür sind jetzt die schmerzhaften Wellen wieder da.

Schwester Karin kommentiert nur "So ist's brav!" und verlässt wieder den Raum.

Ich zähle die Sekunden, eigentlich schaue ich der großen runden Uhr an der Wand zu, wie sie die Sekunden zählt. Und gleichzeitig denke ich: Ist das nicht ein Fehler, sollte ich nicht lieber die Augen schließen und an nichts denken, damit die Zeit schneller um geht? Weitere Grübeleien werden unterbrochen, weil die gelbe LED schon wieder aus ist, und unbarmherzig weiteres Wasser in meinen Darm fließt. Die Krämpfe wären mir jetzt egal, es ist der Druck, der völlig unerträglich geworden ist, und jede Sekunde wird er schlimmer.

Da macht es "klick". Das Ventil ist wieder zu. Aber diesmal ist die rote LED an, der Maximaldruck ist erreicht. Panisch sehe ich zur Uhr: Noch 10 Minuten! Jetzt weiß ich, was Schwester Karin meinte, als sie vorhin andeutete, es könnte ja auch ganz nützlich sein, wenn man den Patienten auf "höchstem Niveau" verweilen lässt. Jetzt durchleide ich einfach nur noch meine gerechte Strafe für den "Betrug". Ich bete, dass Schwester Karin doch noch mal früher vorbeikommt und Erbarmen mit mir hat. Ich würde jetzt alles zugeben, und noch mehr. Aber sie kommt nicht. Einen Moment spiele ich mit dem Gedanken, einfach alle Schläuche herauszureißen und davonzulaufen. Aber realistisch ist das nicht - ich wüsste jetzt nicht mal, wohin ich all das viele Wasser entleeren könnte.

Die Zeit ist um. Gerade als bei mir die Panik aufkommen will, sie könnte mich vergessen haben, kommt Schwester Karin zur Tür hinein und grinst über das ganze Gesicht: "Behandlungszeit zu Ende, Herr Schneider, ich weiß, Sie wären gerne noch etwas länger geblieben und - ah - Sie haben auch offenbar 'das volle Programm' genossen, aber auch andere Patienten haben Anrecht auf Behandlung...". Ich bin zu fertig, darauf noch zu antworten. Schwester Karin löst den Schlauch hinter dem geschlossenen Ventil ab, steckt ihn in eine Halterung über einem Ausguss und zieht die Stecker aus dem Gerät, woraufhin sich das Ventil öffnet und ein schier endloser Strom von Wasser meinen Körper verlässt.

Als ich einige Stunden später auf meinem Zimmer wieder zu Kräften gekommen bin, nehme ich noch mal den Zettel von der Oberschwester zur Hand. Donnerstag: DG. Freitag: DG. Ich lese nicht weiter. Auf was habe ich mich da nur eingelassen? Andererseits: Ein bisschen scharf hat mich diese Tortur heute schon gemacht. Zumindest jetzt, im Nachhinein, habe ich das dringende Bedürfnis, noch einen anderen Druck abzubauen. Wenigstens ein Vergnügen braucht der Mensch in schwerer Zeit...

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