Der Weg

Bedächtig strich seine Hand über die diversen Spielzeuge, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Nicht nur dort, sondern verstreut lagen noch weitere auf Couch und Sessel; bereit, eingepackt und mitgenommen zu werden. So wie in den vergangenen Jahren immer wieder mal Teile davon bei den diversen Treffen mit ihm gegangen waren.
Jedes einzelne Teil barg seine Erinnerungen und Teile der Bilder, die damit verknüpft waren, tauchten aus den Tiefen der Vergangenheit auf, um vor seinen inneren Augen vorbei zu ziehen.
Es wurde Zeit.
Wenn er nicht zu spät kommen wollte, musste er das Träumen einstellen und sich bissel sputen.

Er riss sich los und begann, die einzelnen Teile der Sammlung in einen bereitgestellten Koffer einzupacken. Als Reserve stand noch ein zweiter draußen im Flur. Der Verdacht, dass einer nicht ganz reichen würde, lag doch recht nahe.
Sorgfältig packte er ein Stück neben das andere, räumte um, wenn es ungeschickt lag und füllte somit den ersten Koffer.
Tatsächlich reichte der wie erwartet nicht und er stellte den gefüllten ab und holte den zweiten.
Irgendwie ließ es sich allerdings nicht vermeiden, dass bei der ganzen Tätigkeit wieder die Bilder hochstiegen ... damals...

Jahrelang hatte er - noch zur Zeit seiner Ehe – immer wieder Kontakt zu der Welt derer gesucht, die ihn so sehr anzog. Schon im Kindesalter hatte er Fantasien gehabt, von denen er nicht erklären konnte, woher sie kamen – selbst heute noch nicht.
Die Erklärungen der Schulmedizin von wegen schlechter Kindheit mit prügelnden Eltern und all den Klischee- und Schubladenerklärungen passten vorne und hinten nicht. Klar hatte man mal den Hintern voll bekommen – das war zu der Zeit noch durchaus normal. Wobei er gegenüber Nachbarkindern sogar sehr gut weggekommen war, die wesentlich öfters den Frack voll bekommen hatten.

Leise vor sich hin grinsend erinnerte er sich an den Augenblick, als er als Kind unter den Tisch geflüchtet war und die Mutter ihn mit dem hölzernen Kochlöffel zu erreichen suchte, weil sie nicht auch darunter klettern wollte. Mit dem Erfolg, dass Kochlöffel und Tischfuß sich nicht vertrugen ... naja – vermutlich war der Kochlöffel schon seit längerem angeknackst gewesen.
Später, als er verheiratet war, hatte seine Frau zuerst ganz begeistert bei diversen Spielchen mitgemacht, bis sie nach einer gewissen Zeit auf einmal die Lust verlor und ihm erklärte, sie wolle gerne einen „normalen“ Mann haben.
Damals wurde all das ja auch noch als pervers und krank angesehen und wenn man eben außerhalb der Normalität was machte, hatte man immer den drohenden Gedanken der Klapse im Hinterkopf.

Die Koffer waren ganz schön schwer geworden, zumindest schwerer als er gedacht hatte. Er schleppte sie die Treppen vom oberen Stockwerk herunter und verstaute sie im Kofferraum seines Wagens.
Ein Blick zur Uhr – er würde rechtzeitig ankommen, vergewisserte er sich. Es ging ja eher durch ländliches Gefilde und da waren Staus nicht wirklich zu erwarten. Er schloss das Haus ab, setzte sich in den Wagen und fuhr los.

Er war „normal“ geworden. Lange Jahre. Und es ging auch – klar, man hatte ja noch seine Fantasie. Doch irgendwann war es wieder durchgebrochen und es hatten sich auch die Zeiten geändert.
Das Internet stellte auf einmal eine weite Welt dar, in der sich Möglichkeiten und Kontakte boten. Und er hatte sie genutzt. Im Laufe der Zeit hatte er sich durch Aufenthalte in einschlägigen Chats Kontakte geschaffen, die seinen Neigungen entsprachen. Kontakte, die ihm das versprachen, was tief in ihm bohrte und ein Verlangen erzeugten, dem er jetzt nach langen Jahren nachgab.

Er erinnerte sich an sein erstes Treffen. 300 km war er dazu gefahren und es war schön gewesen, sehr schön. Kein Mensch hatte dabei an covern gedacht oder daran, dass etwas schief gehen könnte. Und es war auch alles glatt gegangen, obwohl man sich vorher noch nicht einmal zu einem Kaffee getroffen hatte.
Leider war die Folgezeit nicht so erbaulich gewesen, denn sie war dann auf einmal ausgetickt. Sie wollte, dass er den Job aufgab, um zu ihr zu ziehen und dass er sich scheiden ließe ... davon war niemals die Rede gewesen vorher. Er hatte immer klargestellt, dass er eine Spielbeziehung suchte und seine Familie nicht verlassen würde.

So, laut Navi musste er hier abbiegen. Die Beschilderung stimmte, also konnte er nicht allzu falsch liegen. Auch die Zeit war ok, so dann er nicht rasen musste, sondern es eher gemütlich anging und so fuhr er weiter, seine „kostbare Fracht“ wohlverstaut hinter sich wissend.

Er hatte immer Wert darauf gelegt, zu seinen Treffen pünktlich zu kommen. Das war zu den Zeiten ohne Navi teils noch schwierig gewesen, aber auch da hatte man immer in zeitlich entsprechendem Rahmen hin gefunden.
Manchmal hatte er auch den Weg unterschätzt oder nicht mit Staus, Sonntagsfahrern und allen möglichen Arten von Baumaschinen gerechnet – und so dann doch manchmal reichlich zu spät gekommen ...
Einmal – es war auch wieder eine Strecke von über 300km gewesen ereichte ihn kurz vor dem Ziel die Nachricht, er möge doch bitte erst eine Stunde später auftauchen, es wäre etwas dazwischen gekommen. Nunja – wenigstens kam er da auf keinen Fall zu spät ...

Im Laufe der Jahre waren es so doch eine schöne Zahl von realen Bekanntschaften geworden. Nicht immer waren es Beziehungen oder Spiele, denen er hinterhergefahren war, oft war es einfach nur, um den Menschen zu treffen, der hinter dem Nick steckte, ihn kennenzulernen und einfach real ein Gefühl zu bekommen, wie dieser war.
Nicht immer waren solche Treffen auch unbedingt begeisternd. So mancher Kaffee schmeckte schal und es sträubten sich innerlich sämtliche Haare, so dass er nachher Mühe hatte, diese wieder harmonisch auszurichten, selbst wenn schon einige km zwischen einem lagen. Ein Grund, sich niemals wieder in die Nähe des Auslösenden zu begeben.

Und aus manchen Treffen wurde auch nichts, weil er immer nur mit Versprechungen gelockt und hingehalten wurde. bis es ihm schlussendlich zu bunt war und er sich beim nächsten Versprechen ein Loch in die Stirn tippte.
Jedoch - aus manchen wurden Freundschaften, die über Jahre gehalten hatten, einige davon bis zur Gegenwart.
Freundschaften, die auch weiterhin Bestand haben würden. Diese waren mit Menschen, mit denen einem mehr verband und mit denen man stundenlang über deren oder eigene Gegebenheiten, Wünsche, Träume und Sehnsüchte reden konnte. Oder sich einfach mal aussprechen konnte, wenn man jemanden zum reden brauchte, um Geschehnisse im eigenen Umfeld zu verarbeiten.
Klar, möglicherweise ging es andere nicht immer was an, aber was sollte man tun, wenn das Herz brannte und die Seele schrie?

Der Weg schlängelte sich durch ein leicht bewaldetes Gebiet. Immer wieder lugte die Sonne durch die Tannen und beschien hier und da eine Lichtung. Er verdrängte den Gedanken daran, wie es damals gewesen war, damals im Wald, und konzentrierte sich auf den Weg, der etwas schmal zu werden schien.
Da vorne war es, das musste es sein. Eben noch die Abzweigung und dann führte die Straße direkt auf das Gebäude zu. Leicht hügeliges Land erstreckte sich um dieses. Hügelig wie es so manches Mal auch im Leben zu ging, manchmal auch steinig und dornenreich.

Die letzte Zeit hatte ihn ziemlich gebeutelt gehabt, Ereignisse, die er nicht einmal im entferntesten in Betracht gezogen hatte. Natürlich hatte auch er selber den einen oder anderen Bock geschossen, manchmal unbedacht, manchmal aus purer Dummheit und manchmal einfach gut meinend genau das Falsche gemacht, wofür er sich hinterher in den eigenen Hintern hätte beißen können, hätte es nur genutzt, es ungeschehen zu machen.
Lügen und Intrigen anderer, die sich als „gut’ Freund“ ausgegeben und denen er vertraut hatte; die sich für anscheinend angetane Schmach zu rächen und Teile seines Lebens und seiner Freundschaften kaputt zumachen gedachten. Er hatte sie alle hinter sich gelassen ... Intrigen und deren Auswirkungen geschluckt. Alle?

Dicht vor dem Eingangstor hielt er an. Schließlich wollte er die Koffer ja nicht unbedingt weiter schleppen als unbedingt nötig. Er schaltete den Motor ab und stieg aus. Auf dem kurzen Weg zum Kofferraum hielt er kurz inne, schaute den Weg zurück, den er gekommen war.
Was lag nicht alles hinter ihm. Gedankenverloren stand er ein paar Minuten, während er auf den Weg starrte.
Dann packte er entschlossen die Koffer aus dem Auto und ging auf das Tor zu, das verschlossen war. Er stellte die Koffer ab, betätigte die Klingel und hörte an einem leisen Schnarren, wie das Schloss entriegelt wurde.

Ein paar Schritte noch und es würde alles hinter ihm liegen. Die Scheidung, die kurz hinter ihm lag, mit all ihren Auseinandersetzungen, die ihn die Trennungszeit über begleitet hatten.
Der Job, der ihm einen gewaltigen Strich durch die Rechnung gemacht hatte, die Menschen, die ihn verarscht hatten und die er aus seinem Umgang gestrichen hatten und was der Dinge mehr waren, die ihm im letzten Jahr das Leben alles andere als angenehm gemacht hatten.

Er trat durch das Tor hinaus auf die Rampe ....

Nur eines – und eine tiefe, hilflose Bitterkeit stieg in ihm auf – eines würde er niemals verwinden. Die eine große Freundschaft, die ihm bis in die tiefsten Orte der Seele gedrungen war und dort verharrte ... wie viele der kleinsten bis großen Ereignisse, die sie begleitet und die sie zusammengeschweißt hatten... „unzertrennlich“ hatten viele verwundert kopfschüttelnd und doch lächelnd gesagt, die sie miterlebt hatten ... sie war in weite Ferne gerückt, schier unerreichbar, auch wenn die Hoffnung noch immer bis in die letzte Faser des Herzens reichte – SIE würde ihm fehlen bis an das Ende der Zeiten...

Entschlossen packte er die Koffer an und warf sie in weitem Bogen auf den unter ihm liegenden Berg der Müllkippe.

Dann drehte er sich um und ging festen Schrittes durch das Tor hinaus. Ein neuer Weg lag vor ihm ...


Verfasser Traceon

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